Der Pate von Bombay
Türmen die Stunde aus. Aber sie will ihm etwas sagen. Anjali wartet, bis Dr. Kharas ihre Anweisungen erteilt und sich verabschiedet hat, dann steht sie auf und macht die Tür zu.
»Ist dir irgendwas zu Gaitonde eingefallen, Onkel?«
»Nein. Nichts Neues. Nur das, was du ohnehin schon weißt.« Gaitonde war von ihm angeworben worden, war sein Mann. Als K. D. sich zur Ruhe setzte, hatte Anjali Gaitondes Führungsoffizierin werden wollen. Aus der Organisation war Widerstand gekommen: Sie sei zu jung, zu unerfahren, vor allem aber eine Frau. Welcher Gangster würde sich von einer Frau führen lassen, welche Frau würde den furchterregenden Gaitonde führen können, dieses skrupellose Monstrum, diesen Frauenheld, der die Frauen verachtete? Es war die alte, in der Organisation anerkannte Argumentation: Man dürfe Frauen nicht im Außendienst einsetzen, denn sie könnten mit den kriminellen Elementen, die üblicherweise die Informationen lieferten, nicht umgehen, könnten keine Deals mit ihnen abschließen, keine Anweisungen erteilen; sie würden nicht fertig mit den Analphabeten, den Ungehobelten und den Verzweifelten. Frauen seien im Innendienst gut, hieß es immer, sie seien gute Analytiker. Dabei sollten sie bleiben. Doch Anjali hatte sich über ihren Einsatz im Innendienst geärgert, hatte gegen diese altmodische Argumentation angekämpft und sich auf Außendienstposten in London und Frankfurt bewährt. Sie war eine gute Analytikerin, konnte aber auch gut mit Menschen - Männern und Frauen - umgehen. Ein pakistanischer Schleuser in Marseille etwa, ein schnurrbärtiger, besonders brutaler Paschtune, hatte sie immer Bhen-ji 083 genannt und ihr entscheidende Kontakte zu Drogenkurieren verschafft, die afghanisches Heroin schmuggelten, mit Verbindungen nach Peshawar und Islamabad. Dennoch hatte die Organisation Anjalis Bitte abgelehnt und Gaitonde einem gewissen Anand Kulkarni zugeteilt, der sehr tough und sehr männlich war. Gaitonde erwies sich letztlich als unzuverlässig, und Kulkarni wurde innerhalb der Organisation für seine Arbeit kritisiert, dabei hatte er, K. D., diesen Mistkerl angeworben. Wenn überhaupt, dann war er daran schuld, daß Gaitonde plötzlich nicht mehr mitgespielt hatte.
»Warum ist das denn so wichtig? Gaitonde ist doch tot.«
»Ja, er ist tot.«
»Und? Es wird einen Kampf um sein Revier geben. Vielleicht wird seine Company auseinanderfallen. Vielleicht werden sie einander umbringen. Und?«
Sie schätzt ihn ab. Sie versucht zu entscheiden, ob sie ihm etwas Bestimmtes erzählen kann oder nicht. Er versteht, daß er jetzt ein Risiko darstellt, daß man ihm keine geheimen Informationen anvertrauen kann. Er ist nicht bei sich, könnte womöglich Dr. Kharas, einer Krankenschwester, anderen Leuten draußen im Flur davon erzählen. Doch er will es wissen. »Sag es mir«, bittet er. »Wenn du es mir sagst, kann ich dir vielleicht helfen. Vielleicht kann ich mich eher erinnern, wenn du es mir sagst.« Er ist sich nicht sicher, ob das stimmt, ob die Fetzen seines einst gepriesenen Gedächtnisses noch genügend Zusammenhalt besitzen, um auf Stichworte, sorgfältiges Lenken und Nachbohren zu reagieren und etwas Sinnvolles hervorzubringen. Aber sie muß es darauf ankommen lassen. Kalkulierte Risiken sind in diesem Spiel an der Tagesordnung, und K. D. selbst hat Anjali in diesen kleinen Schritten durch die Gefahr geschult: Wenn man auf dem Weg zu einem toten Briefkasten ist und sich nicht sicher ist, ob man beobachtet wird, geht man dann im letzten Moment weiter, oder greift man nach der Tüte? Man hat erfahren, daß einer der eigenen Leute Informationen an die andere Seite, an viele andere Seiten verkauft hat, es könnten also mehrere eigene Quellen enttarnt worden sein, und man hat einen V-Mann in einem Institut für militärstrategische Forschung in der Nähe von Islamabad, einen Physiker: Wendet man sich an ihn oder nicht? Es gilt abzuwägen, was der Gewinn wäre und welche Strafe ein Scheitern nach sich ziehen würde, und sich dann zu entscheiden.
Sie hat sich entschieden. Sie spricht schnell und leise. »Wir haben Gaitonde in einem Haus in Bombay gefunden. Das Haus war wie ein sehr sicherer Bunker konstruiert, mit verstärkten Mauern. Wir haben den Bauunternehmer und den Architekten aufgespürt, die es für Gaitonde gebaut haben. Sie haben uns erzählt, das Gebäude sei innerhalb von zehn Tagen hochgezogen worden, nach Plänen, die Gaitonde ihnen zugefaxt hat. Er hat ihnen gesagt, Geld spiele
Weitere Kostenlose Bücher