Der Pate von Bombay
pinkelt, sieht er ein Schachspiel. Er beugt den Kopf weit vor, um in die Kloschüssel zu schauen, aber da, wo er nichts sehen kann, wo der quadratisch geflieste Badezimmerboden abgeschnitten wird, ist jetzt ein Schachspiel. Eine steinerne Tischplatte in einem Park in Berlin. Er trifft sich dort gelegentlich freitagnachmittags mit einem afghanischen Ingenieurstudenten namens Abdul Katthak. Dieser Katthak ist sehr arm, er hat vier Brüder und drei Schwestern, die alle in einer winzigen Wohnung in Neukölln leben, so daß ihm die Mittagessen, zu denen K. D. ihn immer einlädt, sehr willkommen sind, genau wie die kleinen Geldbeträge, die er für seine Dienste erhält. Für die Namen fundamentalistischer Prediger und Informationen über ihre Aktivitäten und Pläne bekommt er von K. D. dünne Umschläge und weitere Umschläge für die Namen antifundamentalistischer Afghanen oder gar eine persönliche Vorstellung. K. D. und Khattak haben über ein indisches Visum für Khattaks jüngere Brüder gesprochen und über Stipendien an indischen Universitäten und Technischen Hochschulen. Das alles natürlich gegen weitere Informationen für K. D. Aber wo ist bloß Abdul Khattak? Er ist nicht bei der Bank im Park, unter dem grünen Blätterdach der Eichen. K. D. sieht die Quadrate auf dem Schachbrett, grüne und weiße Kacheln, die in den Stein eingelassen sind. Khattak mag diesen Treffpunkt, denn er liebt Schach. Die internationalen Wettkämpfe zu verfolgen ist der einzige Luxus, den er sich gönnt, dieser Khattak, der zwischen seinen Kursen, seinem Job in der Wäscherei und seinen Geschwistern hin und her hetzt. Khattak mag keine toten Briefkästen, obwohl es viel ungefährlicher wäre, Nachrichten in einer Einkaufstüte unter einer Bank zu hinterlassen oder an einen Laternenpfahl zu kleben. Khattak redet gern, und nach zwei oder drei hinterlassenen Nachrichten besteht er immer auf einem persönlichen Treffen. Wo ist dieser Khattak, warum ist er unter dem heller werdenden Märzhimmel mit seiner Andeutung von Frühling nicht zu sehen? K. D. schlurft mit ausgestreckten Armen zu seinem Bett zurück, und er weiß genau, warum: Khattak ist tot, erliegt zwischen leeren Kisten in einer Gasse hinter einem Möbelladen. Seine Hände sind hinter dem Rücken zusammengebunden, Wangen und Brust sind grün und blau geschlagen, und man hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Seine Mörder werden nie gefunden, die Polizei hat keinerlei Anhaltspunkte, und K. D. wird ihnen keine liefern. Khattak ist tot, aber seine Informationen sind zu einem Großteil noch verwertbar, sie sind noch lebendig. K. D. nutzt sie, bekommt Zugang zu studentischen Netzwerken, die ihn nach Kabul führen, und kann einen Informanten in Jallalabad anwerben, den Sekretär eines Mullahs, der gerade politisches Gewicht erlangt. Und jetzt, in diesem Krankenhauszimmer in Delhi, kann er in seiner Halbblindheit das Schachspiel sehen, von der Sonne beschienen und in Erwartung der Figuren, in Erwartung des Spiels. K. D. legt sich ins Bett und fragt sich, was wohl aus Khattaks Brüdern und Schwestern geworden ist. Sie haben natürlich überlebt. Die Hinterbliebenen überleben, das ist logisch. Und hier ist das Schachspiel, grün und weiß leuchtet es in seiner Dunkelheit.
»Wer ist der Premierminister?« Es ist Dr. Kharas, sie beugt sich über ihn, leuchtet ihm mit einer hellen Lampe in die Augen. »Mr. Yadav, wer ist unser derzeitiger Premierminister?« Draußen ist es dunkel, und K. D. weiß nicht, wie er vom Morgen zum Abend gelangt ist. Anjali steht am Fuß seines Betts, die Hände um die weiße Metallstange geschlossen.
K. D. lächelt sie an. »Mein Kurzzeitgedächtnis läßt nach«, sagt er. Er versucht Anjali zu trösten: Immerhin hat er noch die geistige Kapazität, zu wissen, daß er nachläßt, das ist doch besser als nichts. Aber es tröstet sie nicht, das merkt er. Sie weiß, daß er keine Ahnung hat, wer der Premierminister ist.
»Haben Sie wieder Halluzinationen?« will Dr. Kharas wissen. Er muß ihr irgendwann an diesem ihm entglittenen Tag davon erzählt haben. Eigentlich hatte er ihr nichts davon sagen wollen, auch Anjali nicht. Jetzt schämt er sich. Es ist beschämend, Dinge zu sehen, die nicht da sind, nicht mehr klar zu erkennen, was ist und was nicht ist. Er würde es nicht aushalten, wenn Anjali ihn bemitleidete, für nicht leistungsfähig hielte. Er hat Inkompetenz nie gut ertragen können. Aber nein, sie wirkt zwar gequält, aber nicht mitleidig, sie wird ihn
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