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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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nicht von oben herab behandeln, das sieht er. Sie merkt, daß er noch präsent ist, inmitten dieser Ruinen. Er, K. D. Yadav, ist immer noch da, er denkt, überlegt, versteht. Er schaut Anjali an, antwortet jedoch Dr. Kharas: »Nein, im Moment habe ich keine Halluzinationen. Warum bekomme ich sie überhaupt?«
    »Das Gehirn mag keine Leerstellen«, sagt Dr. Kharas und lehnt sich zurück. Sie legt die Hände in den Schoß, wie ein Priester, der eine moralische Unterweisung erteilt. »Es toleriert sie nicht. Durch die strukturelle Schädigung Ihrer Sehbahnen entsteht eine Lücke in Ihrem Gesichtsfeld. Dieses Skotom, diese Schneise, füllt das Gehirn aus. Das Material dazu nimmt es aus Ihrer Erinnerung, aus den gespeicherten Gefühlen und Vorstellungen. Im Prinzip findet dieser Vorgang ständig statt, auch bei einem gesunden Menschen. Die eingehenden Daten werden mit dem kombiniert, was bereits vorhanden ist, verändern sich zu einer Wahrnehmung. Unser ganzes Erleben funktioniert so.« Sie hält inne, um zu sehen, ob er ihr folgt, ob all diese Informationen bei ihm ankommen. Sie möchte verständlich sein, die sachkundige Dr. Kharas. Er nickt, und sie fährt fort: »Aus den eingehenden Daten und dem im Gedächtnis gespeicherten Material formt das Gehirn eine Geschichte, und diese Geschichte halten wir für die Realität. Bei Ihnen treten diese Zusammenhänge deswegen so deutlich zutage, weil Ihnen die Hälfte der über das Sehvermögen eingehenden Daten fehlt und das Gehirn diesen Verlust zusätzlich kompensiert. Prinzipiell ist das, was Ihr Gehirn da tut, völlig normal. Wir sind alle so konstruiert.«
    »Wir sind alle so konstruiert«, wiederholt K. D. und bricht in schallendes Gelächter aus. Es ist witzig, auch wenn seine Anjali und die gute Dr. Kharas nicht lachen, nein, sie lächeln nicht einmal, zeigen nicht das geringste Anzeichen von Belustigung. Wir sind alle so konstruiert - um in diesem einsamen Knochenpalast ein Bild der Welt zu entwerfen, um in diesem Traum zu leben und furchtbare Angst davor zu haben, ihn mit dem Tod zu verlassen, um diesen Alptraum aus Eindrücken zu durchleben, als wäre er wahr. Die Wirklichkeit einer Ratte ist genauso real wie meine, deine, unsere. Doch wir leben, sterben, töten in dieser gespenstischen Phantasmagorie sich spiegelnder Erzählungen. Das ist vollkommen erbärmlich oder aber hinreißend komisch. K. D. kann gar nicht mehr aufhören zu lachen, zu keuchen. Schließlich winkt er Anjali zu sich, damit sie sich zu ihm aufs Bett setzt, so nah, daß er ihre Hand halten kann. »Sei nicht bedrückt«, sagt er. »Immerhin ist es ein interessanter Zustand. Und sehr lehrreich.«
    »Dieses Syndrom hat einen eigenen Namen«, sagt Dr. Kharas, die froh ist, Struktur liefern zu können. Sie hält viel davon, ihre Patienten durch Wissen mündig zu machen. »Man spricht vom Charles-Bonnet-Syndrom, benannt nach dem Mann, der es als erster beobachtet hat. Unter Menschen, deren Sehkraft nachläßt, ist es recht verbreitet. Alte Leute mit grauem Star zum Beispiel berichten oft, daß sie Halluzinationen haben: Menschen, Gegenstände, Gespenster.«
    Menschen, Gegenstände, Gespenster. K. D. sieht Menschen und Gegenstände, doch wie ein Gespenst fühlt er sich allmählich selbst, ein Netzwerk flackernder elektrischer Impulse in der knirschenden und knarrenden Maschinerie seines Leibes. Er spürt, wie er stirbt und wieder lebendig wird, wie sein Selbst mit jedem Atemzug schwindet und wiederersteht. Erkennt Dr. Kharas, daß auch dieses Selbst eine Illusion ist, von unserem struktursuchenden Gehirn entworfen, um die Leere auszufüllen? Mitleid erfüllt ihn, für sich, für Dr. Kharas, für seine Anjali. Welche Agonie des Suchens und Leidens ist doch das unentrinnbare Schicksal dieses ziellos treibenden Geisterwesens. Welche schmerzvollen Wendungen muß es erfahren und erdulden, von der Geburt bis zum Tod, dieses Nichts. Anjali ist immer noch traurig, und er streichelt ihr Handgelenk. »Mach dir keine Sorgen«, sagt er. »Es ist schon gut.« Aber sie ist ratlos, und er weiß, daß er ihr nicht begreiflich machen kann, wie sinnlos es ist, um ihn zu trauern, um etwas zu trauern, das immer ein Nichts war. Sie ist jung, in voller Blüte, ficht lebenshungrig ihre Kämpfe aus. Er kann ihr das nicht vermitteln, er sollte es auch nicht. Vielleicht kann so etwas nur begreifen, wer selbst an der Schwelle des Zerfalls steht. Die Spinne webt die Vorhänge im Palast der Cäsaren, die Eule ruft von Afrasiabs

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