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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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seinen Gedanken haften wie eine Klette. Dann erinnert er sich. Er sieht es. In der unteren Hälfte seiner Welt, dem neuen Teildunkel seines Gesichtsfelds, sieht K. D. ein brennendes Dorf. Es ist nicht undeutlich und verschwommen wie ein erinnertes Dorf, es ist keine Halluzination. Es ist ein echtes Dorf, und er kann es sehen. Er sieht die unter den Holzböden der Hütten züngelnden Flammen, sieht eine rotäugige Sau, die panisch grunzend durch die ordentlichen grünen Pflanzreihen eines Kohlrübenfelds läuft, hört das scharfe Knacken von platzendem Bambus. Die Farben sind intensiv und leuchtend wie in der Realität, bloß noch kräftiger, er sieht glitzernden Speichel auf den Zähnen eines schwarzen Hundes, dem in den Kopf geschossen wurde, sieht die Haare auf den gespreizten Hinterbeinen. Es ist echter als echt, dieses sterbende Dorf. Er ist nie in diesem Dorf gewesen, aber er weiß genau, daß es das Dorf Chezumi Song im Bezirk Mon in Nagaland ist. Am 9. Juli 1968 wurde es von einer Einheit der Assam Rifles unter dem Befehl eines gewissen Captain Rastogi, Dakshesh Rastogi, heimgesucht, des Mannes, mit dem sich K. D. auf seinem ersten Posten angefreundet hatte. Rastogi hat sich entwickelt, vom Leutnant zum Captain, und er hat zugenommen, ist zu einem stattlichen Kerl geworden. Er weiß es nicht, doch er handelt auf der Basis von nachrichtendienstlichen Informationen, die K. D. gesammelt, zusammengefügt und den Dienstweg hinuntergeschickt hat. Er ist hinter zwei Naga-Rebellenführern her, L. K. Luithui und M. Essau, die sich bekanntermaßen hier in der Gegend aufhalten und in diesem Dorf Verwandte haben. Rastogis Einheit hat im Laufe des letzten Monats sechs Männer durch Heckenschützen und Minen verloren, und die beiden Nagas sind die strategischen Köpfe hinter diesen Angriffen. Das Dorf wird durchsucht, die Einwohner werden befragt. Captain Rastogi übt Druck aus. Das Dorfoberhaupt und die Honoratioren des Dorfes werden mit Gewehrkolben geprügelt. Sie behaupten alle, sie wüßten nichts von den Rebellen. Es wird mehr Druck ausgeübt. Die drei Töchter des Dorfoberhaupts werden an den Haaren vom Platz geschleift. Sie heißen Rose, Grace und Lily. Sie werden vergewaltigt. Zweiundzwanzig Frauen werden vergewaltigt, und das Dorf wird niedergebrannt. Drei Männer des Dorfes werden getötet - Captain Rastogis Bericht zufolge Terroristen, niedergestreckt bei einer Schießerei, die die Zerstörung des Dorfes Chezumi Song zur Folge hatte. L. K. Luithui und M. Essau, die beiden Rebellen, werden drei Tage später in einem Versteck im Wald, dreizehn Kilometer weiter nördlich, gestellt und erschossen. Captain Rastogi erhält eine Belobigung und ist von nun an auf dem Weg nach oben. K. D. weiß, was in den offiziellen Berichten steht, und er weiß, was wirklich passiert ist. Schließlich ist er Geheimdienstler. Er weiß, daß der Hinweis auf das Versteck von einem Mädchen namens Luingamla kam, das es stammelnd verriet, weil Captain Rastogi mit der Pistole auf den Kopf ihres Vaters zielte. K. D. weiß das. Es ist seine Aufgabe, es zu wissen. Er war nicht dabei, aber er weiß es. Er kann das Dorf Chezumi Song jetzt vor sich sehen, ganz deutlich. Er sieht es lichterloh brennen. Aber wo sind die Menschen? Er sieht weder Nagas noch Soldaten. Er hört Schreie. Die Vögel kreischen gellend in seinem Kopf. Da, ein Schuß - von einem Webley-Scott-Revolver Kaliber .38, das weiß er, denn den hat Captain Rastogi an diesem Tag getragen. Aber es gibt keine Menschen in diesem echten Dorf.
    »Das Dorf brennt«, flüstert K. D.
    Die Medizinalassistenten beugen sich näher zu ihm. Dr. Kharas horcht konzentriert. »Was für ein Dorf?« fragt sie. »Was für ein Dorf?«
    K. D. sagt nichts. Was kann er schon sagen? Ein Dorf, von dem ihr noch nie gehört habt, das aufhörte zu existieren, bevor die meisten von euch auch nur geboren waren. Es existiert nicht mehr, aber es brennt noch immer. »Das Dorf brennt«, sagt er abermals. Dr. Kharas flüstert ihren Assistenten etwas zu, und schließlich gehen sie. Das Dorf brennt weiter, K. D. horcht auf das Prasseln der Feuersbrunst, die Schreie, die Schüsse. Am Nachmittag gelingt es ihm endlich, einzuschlafen oder wenigstens vom Schlafen zu träumen. Er wacht erschöpft und mit Gliederschmerzen auf. Er schleppt sich zur Toilette, eine Hand ausgestreckt, die Fingerspitzen immer an der Wand. Auf seinem blinden Fleck, seinem Streifen Dunkelheit, ist Chezumi Song nicht mehr zu sehen, doch während er

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