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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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Komplotte und die tapferen, selbstlosen Helden. In diesen Büchern, und nur in diesen Büchern, explodieren manchmal Bomben und radieren ganze Städte aus. Nur in diesen Büchern gibt es das qualmende Danach, diese Stille ohne Vögel. Aber irgendwann klappt man das Buch zu, legt es auf den Nachttisch, trinkt noch einen Schluck Wasser, dreht sich um und schläft ein. Es ist nicht nötig, düstere kleine Bunker mitten in Bombay zu bauen, nicht nötig, daß ein Gangster seine sichere Zuflucht im Ausland verläßt und sich in Gefahr begibt, nicht nötig, drei Sadhus zu suchen. Alles nicht nötig. Aber Gaitonde ist tot. Warum?
    K. D. weiß es nicht. Aber er denkt nach. Anjali räumt die beiden Tabletts, Gläser und Löffel ab. Sie sieht erschöpft aus. »Geh doch heim«, sagt er. »Das macht der Stationshelfer schon.«
    »Es macht mir nichts aus. Ich habe sogar gefragt, ob ich hier übernachten darf. Sie wollen mir eine kleine Liege reinstellen.«
    »Das ist wirklich nicht nötig, Anjali. Wirklich. Du mußt dich doch mal ausruhen.«
    »Ausruhen kann ich mich hier auch. Ich brauche nicht viel Schlaf, und auf der Liege werde ich es bequem haben.«
    Er begreift, daß sie um ihn besorgt ist, aber auch um ihre Operation, um ihre Welt, die sie bedroht wähnt. Sie will in seiner Nähe bleiben, in der Nähe seines schwindenden Gedächtnisses und Bewußtseins, für den Fall, daß er einen Namen, einen Ort, ein Wort hervorstößt, etwas, das sie in Gaitondes verflossenes Leben führen wird. Sie liebt ihren Onkel, ja, aber sie tut auch ihre Arbeit. Sie folgt ihrer Ausbildung und ihrem Instinkt, sie ist eine gute Schülerin. K. D. liegt im Sterben, er weiß es, sie weiß es. Höchstwahrscheinlich wird der Sterbende sie nur ins Land der Toten führen, aber sie geht auf Nummer Sicher - vielleicht wird K. D. ihr noch etwas Nützliches geben, bevor er ins Schweigen entgleitet. Er lächelt sie an. »Na gut, Beta. Hauptsache, du hast alles, was du brauchst.«
    »Ich habe sogar meine Zahnbürste mitgebracht«, sagt sie und hält sie hoch. Sie ist wieder das kleine Mädchen von früher, und sie grinsen einander an. Es ist behaglich, jemanden im Zimmer zu haben, im Bad herumplätschern zu hören. Anjali macht es sich auf der Liege bequem. Sie wünschen sich eine gute Nacht, und K. D. schaltet die Lampe über seinem Bett aus. Anjali schläft fast unmittelbar ein, atmet mit tiefen gleichmäßigen Zügen. Er betrachtet sie, den Umriß ihrer Schultern. Sie hat niemanden, den sie anrufen, dem sie Bescheid sagen müßte, daß sie heute nacht nicht kommt. Sie hatte mal einen Ehemann, einen Jungen aus Kannadiga, den sie gegen den Wunsch beider Elternpaare heiratete, vom Idealismus einer großstädtischen Liebesbeziehung in Delhi getragen. Ihr Mann hatte Wirtschaftswissenschaften am Zakir Hussain College studiert, trat eine Laufbahn beim Indian Administrative Service an und verließ sie vier Jahre nach der Hochzeit, weil sie, so sein Vorwurf, ständig unterwegs und von ihrer Arbeit besessen sei. K. D. weiß nicht, ob sie inzwischen jemand anderen hat, jedenfalls spricht sie nie darüber, nicht einmal von dem Verlangen, der Sehnsucht danach. Zieht sie es mittlerweile vor, allein zu sein, so wie K. D.? Er hat sich oft gefragt, ob das Alleinsein nicht besser ist als die Langeweile oder der Betrug, die offenbar unweigerlich am Ende jeder glücklichen Liebesbeziehung, jeder glücklichen Ehe stehen. Die Leute klammern sich aus Angst aneinander. K. D. hat dem immer die Stimmigkeit des Alleinseins vorgezogen. Er war, ist Realist. Er hat die Kraft, dem Tod allein ins Auge zu sehen.
    In der oberen Hälfte seines Gesichtsfeldes ist seine Wahrnehmung scharf und differenziert, er sieht den zierlichen Schatten von Anjalis Haaren an der Wand, einzelne hochstehende Haare als feine Linien auf dem Grau. In der unteren Hälfte geht ein Mann namens Palash auf einem Damm zwischen Reisfeldern entlang. Er trägt ein zerrissenes Banian und ein Dhoti, die Haut in seinem Nacken ist dunkel und faltig. K. D. beobachtet seit fünfzehn Kilometern, wie der Schweiß darüberläuft. Der Nacken des Mannes ist in der Dunkelheit dieses Krankenhauszimmers wirklicher als an jenem lang zurückliegenden Nachmittag: das glänzende Schokoladenbraun und das strähnige graue Haar, das in der untergehenden Sonne leuchtet. Der Weg schwingt sich vom Damm hinunter und führt pfeilgerade in Richtung des Horizonts. Die Felder sind geflutet, und die jungen grünen Triebe spiegeln sich auf der

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