Der Pate von Bombay
Ex-Mann Arun waren es Manien gewesen: Irgendeine obskure Sache weckte ihr Interesse, ein dunkles Geschehen, das keine zwanzig Leute auf der Welt beschäftigte, und dann mußte sie alles darüber wissen. Zu ihren Projekten hatten Lebenszyklus und soziale Organisation der roten Ameise ebenso gehört wie die Geschichte der Terrakottaskulpturen auf dem Subkontinent, die Wirtschafts- und Organisationsstruktur der sowjetischen Gulags, die Frühgeschichte der Dampflokomotive und der Eisenbahn allgemein. Einmal hatte sie vier herrliche Monate lang in jeder freien Minute die Feldzüge Julius Cäsars studiert. Nichts von alldem war von praktischem Nutzen für sie. Das Schöne daran, so hatte sie Arun zu erklären versucht, lag im Detail, es machte ihr Spaß herauszufinden, wie eine Sache funktionierte, wie ihre Einzelelemente zusammenpaßten. In der ersten Zeit hatte Arun diese Projekte amüsant, ihre Abseitigkeit reizvoll gefunden. Er hatte Anjalis Neugier und ihr Gedächtnis bewundert. Später aber, nach der Heirat, war er ihres fortwährenden Lesens und Forschens überdrüssig geworden. Bei einem ihrer ersten Kräche hatte er gesagt, er finde sie langweilig. Daß sie verschieden waren, hatten sie immer gewußt, aber anfangs hatte es so ausgesehen, als würden sich seine Geselligkeit und ihre stille Ruhe ausgleichen. Später wandte er sich mehr und mehr seinem stetig wachsenden Freundeskreis zu, er trank gern Scotch und versäumte keine Übertragung eines Formel-eins-Rennens, auch nicht während seiner Probezeit in einem Provinznest in Madhya Pradesh; damals war er per Anhalter in einem Kohlenlaster zum nächsten größeren Fernseher gefahren. Einige Jahre später, wieder während eines Rennens, war er endgültig zu dem Schluß gekommen, daß Anjali langweilig sei. Noch jetzt glaubte sie, er hätte sie vielleicht weniger langweilig gefunden, wenn sie bereit gewesen wäre, ihre Karriere aufzugeben und ihm wie die anderen IAS-Frauen 274 auf jeden neuen Posten zu folgen. Aber das alles war lange her, und es war vorbei. Anjali wandte sich wieder ihrem Artikel zu und las über die Sannyasi 555 -Rebellion 556 .
Doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Es war schwer, Texte zu lesen, ohne mit Onkel K. D. darüber sprechen zu können, ohne Diskussion und Exegese. Sie hatte immer mit ihm zusammen gelesen, selbst wenn er auf der anderen Seite des Erdballs unterwegs war, und plötzlich war da nur noch diese Abwesenheit, diese erhabene Gleichgültigkeit. Sein Schweigen ließ einen Hohlraum in ihr entstehen und drohte jene andere, größere Leere freizulegen, die ihr Vater hinterlassen hatte. Panik stieg in ihr auf, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Es war schwer, so allein zu sein, es war unmöglich. Sie erhob sich und ging auf und ab, wanderte zwischen Tür und Fenster hin und her, um die Angst zu vertreiben. Sie war nicht allein. Sie hatte Ma, um die sie sich kümmerte, sie hatte viele Freunde, sie hatte gute Kollegen, und was das wichtigste war: Sie hatte ihre Arbeit. Sie wurde gebraucht. Und es gab - vielleicht - einen Mann, einen Soziologieprofessor, etwas jünger als sie, aber sehr liebenswert. Sie konnte noch auf Liebe hoffen oder wenigstens auf Kameradschaft und Mitgefühl, anders als der arme Onkel K. D., der fast wie ein Asket gelebt hatte. Sie hielt inne und straffte sich. Mach dich nicht lächerlich, gebot sie sich selbst. Es brach ihr das Herz, Onkel K. D. zu verlieren, aber ein Teil von ihm blieb, sie verdankte ihm zumindest ihre Ruhe, ihre Disziplin. Und so saß sie bei ihm und drückte sein Handgelenk, hielt sich daran fest und begann wieder zu lesen.
Seit Mary Mascarenas Frisuren machte, wußte sie um die Vergänglichkeit des Glücks. Hin und wieder kam es vor, daß sie bei einer Kundin einen gleißenden Moment der Vollendung erreichte, in dem Ehrgeiz, Physiologie und die jeweilige Mode zusammentrafen und Schönheit hervorbrachten, reine, atemberaubende Schönheit. Diese Momente, wenn das Haar aus Tüchern, Lockenwicklern und Wärme zum Vorschein kam, wenn die Kundin in die Spiegel ringsum sah, waren Momente der Freude, der Ekstase, so real wie Liebe, Mutterschaft oder Patriotismus. Doch die Zeit verging. Die Moden wechselten, die Kundin wurde älter, wurde alt, und das Haar wuchs und wuchs. Es wurde länger, es veränderte Struktur und Lockenfall, es ging aus, es ergraute und wurde dünn. Jedes Glück verging. Früher oder später wurde die einst so glückliche Kundin unruhig und wollte eine andere Frisur. Die
Weitere Kostenlose Bücher