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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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Mutter würde sterben. K. D. Yadav würde sterben, bald schon. Nur ihr Vater war unsterblich, er schwebte irgendwo in der ewigen Jugend der Vermißten. Er war für tot erklärt worden, aber er lebte noch. Anjali spürte seine Gegenwart frühmorgens, wenn sie sanft aus den Sümpfen des Schlafes auftauchte. Dann kam er zu ihr mit seinem salzigen Geruch nach Schweiß und Brylcreme, seine Schulter so fest an ihrer Wange wie die wärmende Sonne, die durch das Eckfenster schien.
    Ein silberner Lexus hielt dicht neben ihr, und dann kam der Verkehr zum Erliegen. Hinter den getönten Scheiben des Lexus saß ein Kaugummi kauender Teenager, ein Mädchen, das in einem Hochglanzmagazin blätterte. Sie wirkte gelangweilt, und sie war schön. Ihr Vater war Minister, Industriemagnat, ein berühmter Arzt oder einer jener Schieber, die an den Schnittpunkten der vielen Welten Delhis ihre Geschäfte machten. Sie lebte in einer Lexuswelt, weit weg von Anjali, einer Welt des Vasant Vihar 654 , der Senso- und Farm-house-Partys und der Teeny-Outfits. Sie spürte Anjalis Blick, schaute kurz auf und wandte sich dann gleichgültig wieder ihrem Magazin zu. Anjali sah sich selbst in der Scheibe des Lexus, verschwitzt und sehr mittelschichtmäßig in ihrem braun-roten Kamiz mit dem roten Chunni, eine Frau, die es sich nicht leisten konnte, die kaputte Klimaanlage ihres Wagens austauschen zu lassen. Der Verkehr setzte sich wieder in Bewegung, und der Lexus glitt davon. Anjali wischte sich über das Kinn. Wie leicht kam Groll auf, der Wunsch, ein paar wütende Polizisten würden den Lexus stoppen, die Wagenpapiere verlangen, die Abgaswerte und die möglicherweise nicht zugelassenen getönten Scheiben beanstanden. Anjali tat den Gedanken mit einem Achselzucken ab, richtete sich gerade auf und zwang sich, zu den Fakten zurückzukehren, der Arbeit, die vor ihr lag. Groll war sinnlos, um so mehr als jeder mürrische, auf Schikane bedachte Polizist sich letztlich mit einem Schmiergeld von zwei- oder dreihundert Rupien zufriedengeben würde.
    Im Krankenhaus spritzte sich Anjali Wasser ins Gesicht und über die Arme. Als sie aus dem Bad kam, lag Onkel K. D.s Kopf in genau derselben Neigung auf dem Kissen wie zuvor. Sein Profil hob sich dunkel gegen das helle Fenster ab, die vertraute, gewölbte hohe Stirn, der fast kahle Schädel, die vorspringende Nase. Seit fünf Wochen hatte er kein Wort mehr gesprochen. Er war ein gefügiger, pflegeleichter Patient, er ging auf und ab, wenn man ihn an der Hand führte, er setzte sich, wenn man ihn sanft in einen Sessel drückte. Doch er aß langsam und nur, wenn man ihn fütterte, und seine Lieblingsspeisen schienen ihn nicht mehr zu erfreuen. Nichts berührte ihn mehr. Er war weit fort. Anjali wußte das, sie erkannte es, wenn sie direkt vor ihm saß und mit ihm redete. Hinter dem langsamen Zwinkern verbarg sich weder Freude noch Traurigkeit. Er war nur fern. Er hatte Haß und Begierde weit hinter sich gelassen und konnte deshalb auch nicht mehr lieben. Dennoch saß Anjali bei ihm, sooft sie konnte. Die Schwestern drehten ihn im Lauf des Tages mehrmals um, sie brachten ihn ins Bad und in den Garten, und Anjali drehte ihn schließlich wieder dem Fenster und dem Sonnenuntergang zu. Schon als Kind hatte sie gemerkt, wie sehr er den Wechsel der Farben liebte. Er hatte die Berge und den Schnee geliebt. Er hatte ihr von Himalaja-Gipfeln erzählt, die sich bei Sonnenaufgang erst strahlend golden und später blau färbten.
    Die Ärzte gaben ihm noch zwei Monate, vielleicht drei. Anjali hatte gesehen, wie angestrengt er sich bemüht hatte, zu ihr zurückzukehren, als sie ihm von dem Falschgeld erzählt hatte. Nach dieser kurzen Rückkehr aber hatte sie sich endgültig und ohne Hoffnung damit abgefunden, daß er nicht mehr da war. Hier lag nicht K. D. Yadav. Und trotzdem besuchte sie ihn abends. Sie würde ihn auf keinen Fall im Stich lassen.
    Sie ließ sich in dem Sessel neben dem Bett nieder, blätterte zu der markierten Stelle in ihren Papieren und las die Fotokopie eines Artikels mit dem Titel Eine Geschichte der Kriegerasketen in Indien. Daß Gaitonde drei Sadhus gesucht hatte, war eine Information, die zu nichts geführt hatte, und selbst Anjali glaubte jetzt, daß es sich um eine Fehlinterpretation, einen Scherz, eine Anspielung auf irgend etwas anderes oder gar um eine Lüge handelte. Doch ihre Lektüre über Sadhus hatte sie mitten in eine ihrer Obsessionen hineingeführt. Sie nannte sie ihre »Projekte«, für ihren

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