Der Pate von Bombay
Ansichten, was Schamlosigkeit in jeder Form betraf, und er wollte sie nicht allzusehr gegen Kamala Pandey einnehmen. Sie würde die Frau auf Abwegen ohnehin verurteilen. »Ich hab ihr natürlich gesagt, daß ich ohne Anzeige nichts machen kann«, sagte er. »Sie ist so dumm. Sie glaubt, sie bekommt, was sie will, und sie kann tun und lassen, was sie will.«
»Ja. Wahrscheinlich hat ihr Vater ihr jeden Wunsch erfüllt und ihr keine Disziplin beigebracht. Die Kinder werden heutzutage viel zu sehr verwöhnt.«
Sartaj mußte laut lachen. Das war der Grund, warum er seine Mutter mitten in der Nacht anrief: diese unvermittelten einfachen Erkenntnisse, diese Bestätigung seiner eigenen Ahnungen. »Ja, sie ist ein verzogenes Gör. Nervtötend.« Er setzte sich im Bett auf und nahm einen tiefen Schluck Wasser. Er fühlte sich schon besser, als er so der Stimme seiner Mutter lauschte »Hat Papa-ji oft mit dir über seine Fälle gesprochen?«
»Nein, über die Arbeit hat er nicht gern geredet. Als Polizist kommt man sowieso erst um Mitternacht von der Arbeit weg, hat er gemeint, und wenn man dann immer noch daran denkt und darüber spricht, wird man verrückt. Wir haben uns über andere Dinge unterhalten, und dabei konnte er sich entspannen. Das hat er jedenfalls gesagt.« Es klang leicht belustigt. Sartaj sah sie vor sich, wie sie den Kopf schräg legte. »In Wirklichkeit war er einfach altmodisch. Er dachte, die Morde und all die anderen schmutzigen Dinge, mit denen er zu tun hatte, würden mich ängstigen. Er fand, Frauen sollte man von solchen Dingen fernhalten.«
»Und das hast du mitgemacht?« Sie sah sich gern Actionfilme an und hatte in den letzten Jahren eine unerklärliche Vorliebe für die besonders üblen, blutrünstigen Kettensägen-Horrorserien im Fernsehen entwickelt. Morgens las sie mit Genuß den Polizeibericht in der Zeitung, sie gab ihre Kommentare dazu ab und erklärte immer wieder, wie schlimm es um die Welt stehe und daß es immer schlimmer werde.
»Ach, man paßt sich an, Beta. Man paßt sich an! Er wollte nicht über die Arbeit reden, also wollte ich's auch nicht. So sieht das Mitmachen aus. Aber das versteht diese heutige Generation nicht.«
Damit meinte sie Sartajs und Meghas Generation. Sie wußte, daß Megha wieder verheiratet und damit für Sartaj vollends unerreichbar geworden war, aber hin und wieder sprach sie noch darüber, was geschehen war, was hätte geschehen sollen, was Sartaj hätte tun sollen. Sartaj hatte es längst aufgegeben, mit ihr darüber zu diskutieren oder auch nur etwas anderes dazu zu sagen als ein gelegentliches »Ja«. Er legte sich zurück und hörte zu. Sie war seine Mutter, und er paßte sich an.
»Geh jetzt schlafen«, sagte sie schließlich, »sonst kommst du morgen so müde zur Arbeit.«
»Ja, Ma.« Sie verabschiedeten sich, und er drehte sich zum Fenster, um den Luftzug auf seinem Gesicht zu spüren. Bald war er eingeschlafen und träumte von einer weiten Ebene, einem wolkenlosen Himmel und einer endlosen Kolonne dahinwandernder Gestalten. Plötzlich fuhr er hoch. Das Telefon klingelte.
Es war noch vor sieben, das wußte er, ohne die Augen zu öffnen. In der morgendlichen Stille draußen zwitscherte ein einzelner Vogel. Er wartete, doch das Klingeln hörte nicht auf, und schließlich nahm er ab.
»Sartaj«, sagte seine Mutter, »du mußt der Frau helfen.«
»Was?«
»Der Frau von heute nacht, von der du mir erzählt hast. Du solltest ihr helfen.«
»Ma, hast du überhaupt geschlafen?«
»Wo soll sie denn sonst hin? Was soll sie tun? Sie ist ganz allein.«
»Ma, Ma, so hör doch! Ist alles in Ordnung bei dir?«
»Natürlich, was soll denn nicht in Ordnung sein?«
»Gut. Aber was beschäftigst du dich denn mit dieser dämlichen Frau?«
»Ich hab noch mal über sie nachgedacht. Du solltest ihr helfen.«
Sartaj rieb sich die Augen und lauschte auf das Zwitschern. Frauen waren rätselhaft, und Mütter waren noch rätselhafter. Ma schwieg jetzt, aber es war ihr strenges Schweigen, eine Stille, die keinen Widerspruch duldete. Er wollte unbedingt weiterschlafen. »Ja, ist gut. Okay.«
»Ich mein's ernst, Sartaj.«
»Ich auch. Wirklich, ich werde ihr helfen.«
»Sie ist ganz allein.«
Das ist jeder auf der Welt, hätte Sartaj am liebsten geantwortet, aber er zwang sich, brav zu sein. »Schon gut, Ma. Ich helfe ihr. Versprochen.«
»Ich gehe jetzt in den Gurudwara.«
Was das damit zu tun hatte, daß sie ihn aus dem tiefsten Schlaf riß, war ihm
Weitere Kostenlose Bücher