Der Pate von Bombay
konnte er nicht machen, das wäre Polizeischikane gewesen. Aber er wußte, wer um zwei Uhr nachts noch wach sein würde. Er wählte die Nummer, drückte mit zitterndem Finger die beleuchteten Tasten. Er horchte auf das Läuten und wartete mit erhobener Hand. Er war sehr angespannt. Ich muß meinen Blutdruck kontrollieren lassen, dachte er. Hoher Blutdruck lag in der Familie; sein Vater hatte sein Leben lang damit zu kämpfen gehabt, ebenso mit einem erhöhten Cholesterinspiegel. Er hatte einen Herzinfarkt überlebt und war neun Jahre danach friedlich im Schlaf gestorben, nach Auskunft der Ärzte eines natürlichen Todes.
»Peri pauna, Ma«, sagte Sartaj.
»Jite raho, Beta. Bist du gerade nach Hause gekommen?«
»Ja, ich hatte noch zu tun.« Arbeit war ein akzeptabler Grund für einen so späten Anruf. Hätte er ihr gesagt, daß er nicht schlafen konnte, hätte sie sich sofort eingehend nach seinen Eßgewohnheiten, seinem Alkoholkonsum und seiner Gesundheit erkundigt, und das wollte er nicht riskieren. »Du bist so heiser, Ma«, sagte er. »Bist du erkältet?«
»Erkältet, ich? Ich erkälte mich nie. Dein Vater, der war dauernd erkältet. Er hatte dieses dünne Bombay-Blut. Aber wir sind in einem guten Klima aufgewachsen, wir waren kalte Winter gewohnt.« Das war ein altes Thema von ihr: Der Sardar des Nordwestens war robuster als der Bombay-Sardar. Die Schwestern waren die robustesten von allen, besonders Navneet-bhenji, die Älteste. Und nun kam sie, die Geschichte der abgehärteten, vor langer Zeit verschwundenen Tante. »Navneet-bhenji hat morgens immer kalt gebadet, sogar im Januar. Um halb sieben schon, weil sie ins College mußte. Selbst Papa-ji hat gesagt, sie soll ein bißchen heißes Wasser dazutun, aber sie hat nicht auf ihn gehört. Und dabei war sie so zart und schön! Sie hat Literatur studiert und sah aus, als müßte sie eher in einem Palast Perlen zählen, aber sie war stark wie eine Bäuerin. Sie hat auch sehr gut gemalt. Ländliche Szenen, mit Feldern, Häusern und Kühen. Von unserem neuen Haus hat sie auch einmal ein Bild gemalt, wunderschön.«
Ma verstummte, und auch diese Unterbrechung war Sartaj wohlbekannt - Ma trauerte um die tote Schwester. Navneet-mausi war während der Teilung umgebracht worden, und Ma redete von ihr, seit Sartaj denken konnte. Sie war tot, und doch war sie in seinem Leben immer dagewesen. Alle Kinder und Enkelkinder der Familie kannten sie gut, diese abwesende Tante. Sie waren mit ihr aufgewachsen, mit den Geschichten über sie, der Starre, die sich auf die Gesichter der Erwachsenen legte, wenn sie von ihr erzählten. Sartaj hatte von Zeit zu Zeit versucht, diese Anspannung von Muskeln und Nerven, dieses Einfrieren des Gefühls zu durchbrechen und zu erfahren, was genau in jenen blutigen Jahren geschehen war. Aber Ma hatte immer nur gesagt: »Es war eine schlimme Zeit, eine sehr schlimme Zeit.« Und so redeten sie alle, Onkel und Tanten und Großeltern. Manchmal schimpften sie auf die Muslime: »Du hast ja keine Ahnung, Beta. Schlechte Menschen sind das, sehr schlechte Menschen.«
In dieser Nacht aber war Ma nicht zornig oder verbittert wegen der alten Wunden, diesmal schwieg sie. Schließlich sagte Sartaj: »Ich weiß gar nicht, wie du dich an all das erinnern kannst, an wunderschöne gemalte Bilder und so, das ist doch so lange her. Ich kann mich nicht mal an den Namen eines Hundes erinnern.«
»Eines Hundes?«
Da erzählte Sartaj ihr die Geschichte von dem Mann, seiner Frau und dem Hund, der aus dem Fenster geflogen war.
»Was für ein Scheusal!« rief Ma. Sie mochte Hunde, und die Hunde mochten sie. »Hast du ihn verhaftet?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Die Frau wollte ihn nicht anzeigen.«
»Are, das war doch Mißhandlung eines unschuldigen Tieres.«
»Sie wollte nicht mal sagen, daß er den Hund aus dem Fenster geworfen hat.«
»Vielleicht hatte sie Angst vor ihm.«
»Sie selber ist auch nicht so unschuldig.«
»Wieso? Hast du sie noch mal gesehen?« Ma hatte sich jahrzehntelang mit einem Polizisten, mit zwei Polizisten herumgeschlagen, und sie hatte gelernt, Nuancen wahrzunehmen, Unausgesprochenes herauszuhören. »Was ist denn mit ihr?«
Es war eine häßliche Geschichte für die Ohren seiner Mutter so spät in der Nacht, aber Sartaj erzählte sie trotzdem, lieferte einen Kurzbericht über die Frau, den Piloten und die Erpressung. Das Geld, das ihm Kamala Pandey angeboten hatte, und ihr enges weißes Top ließ er weg. Ma hatte strenge
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