Der Pate von Bombay
würde, dann jetzt. Mich umsurrten plötzlich winzige fliegende Insekten, und ich war bereit, ihre Stiche hinzunehmen, doch sie schwirrten nur in einer wabernden Wolke um meine Schultern, ein Zittern in der Luft. In ihrem schimmernden Kreis erinnerte ich mich an den Blick durchs Fenster auf einen Berghang, an die im Wind raschelnden Seiten eines Schulbuchs, an das endlose Schluchzen meiner Mutter nebenan. Endlos. Genug - mit einer wedelnden Handbewegung vor meinem Gesicht löste ich mich davon. Ich ging geduckt durch das Dunkel unter den Zweigen, hielt auf eine Wasserfläche zu, die in Sicht gekommen war. Ein kleiner Teich in einer flachen Senke, gesäumt von vergilbten Gräsern. Ich hockte mich wieder hin, den Sack vor mir. Es waren keine Fußabdrücke in dem schlammigen Boden rings um den Teich zu entdecken, keine Pfade führten durch das harte Gras, und bis hin zum Stacheldraht jenseits des Gewässers, ja selbst dahinter, auf der Straße, sah ich keine Menschenseele. Aber ich wollte noch eine halbe Stunde warten. Ich hielt den glatten Quader in meiner Tasche fest, atmete ein, aus. Ich verfolgte das rasche, irisierende Auf und Nieder der Libellen über dem Wasser. Das würde mir nicht noch einmal passieren, ich würde nicht wieder in den langsamen Strudel der Vergangenheit sinken. Ich hatte ein Leben gehabt und hatte es verlassen. Für Ganesh Gaitonde gab es nur diesen Tag, diese Nacht und alle Tage und Nächte danach.
Als ich den geeigneten Zeitpunkt für gekommen hielt, ging ich tief in das Wäldchen hinein, in den dunkelsten Schatten. Ich wählte einen Baum aus und begann zu graben. Die Erde war locker, aber trocken, und ich kam nur langsam voran, so daß meine Finger bald wund waren. Ich hätte mir erst irgend etwas zum Graben suchen sollen, ein Stück Blech oder so was. Schlechte Planung. Aber nun hatte ich angefangen, also machte ich weiter, schaufelte die Erde händeweise zur Seite. Als ich die härtere Schicht unter dem Mutterboden erreicht hatte, rückte ich ein Stückchen weg und bearbeitete sie mit den Fersen, bis sie gelockert war. Eine harte, schweißtreibende Arbeit, und als ich aufhörte, hatte ich kaum ein Loch zustande gebracht, nur eine flache Mulde unter dem dunklen Baumstamm. Ich war müde und hungrig, sie würde reichen müssen. Mein Atem ging schwer. Ich zog die Schnur des Sacks auf, nahm zwei Barren heraus und verlor mich einen Moment lang in ihrem sanften bronzenen Glühen. Dann stopfte ich den Sack in die Kuhle und scharrte die Erde darüber. Es sah aus wie ein kleiner Hügel, und ich krabbelte unter den Bäumen herum und suchte Grasbüschel, Blätter und Zweige zusammen, um ihn damit zu bedecken. Schließlich trat ich einen Schritt zurück und betrachtete mein Werk. Im Halbdunkel würde es als eine zufällige Erhebung unter einem beliebigen Baum durchgehen, es sei denn, jemand setzte sich darauf. Aber warum sollte irgendwer hierherkommen, hier herumstreifen, sich setzen? Es war ein sicheres Versteck. Ganz bestimmt. Doch ich mußte vom Zaun aus noch einmal zurückgehen, um mich zu vergewissern, daß ich wieder hinfinden würde. Einmal nur. Danach zwang ich mich, unter dem Zaun durchzukriechen, die Straße hinunterzugehen, festen Schrittes abzubiegen, trotz des Verlustgefühls, das mir in die Magengrube fuhr, so schmerzhaft, daß ich mir mit beiden Händen den Bauch halten mußte. Risiko bleibt Risiko, und daraus entsteht Profit. Wenn es weg ist, ist es weg. Man muß sich auf einen Deal einlassen. Den Deal durchziehen.
Ich wußte nur einen Namen: Paritosh Shah. Ich hatte ihn zweimal gehört, das erste Mal von einem Mann namens Azam Sheikh, der gerade eine vierjährige Haftstrafe wegen Einbruchs abgesessen und schon nach zwei Tagen den nächsten sauberen Bruch hingelegt hatte, und zwar am hellichten Tag, ein Rein-Abräumen-Raus in der Wohnung eines frisch vermählten Paars in Santa Cruz East. »Die brave kleine Ehefrau ist auf den Markt gegangen, um Gemüse für ihren Mann zu kaufen«, erzählte Azam, »und wir haben uns ihre Goldkette, ihre Armreifen, ihre Ohrringe und ihren Nasenring geschnappt, alles außer der Mangalsutra 398 , und Paritosh Shah hat einen guten Preis für das Ganze gezahlt.« Ich stand in dem Restaurant, wo ich als Kellner arbeitete, hinter der Küchentür, machte eine Pause und lauschte der Prahlerei, doch als Azam meine Füße unter der Tür entdeckte, beschimpfte er mich und hörte auf zu reden. Ich trat weg. Später erzählte mir der Kellner, der ihn bedient hatte,
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