Der Pate von Bombay
Tages gesprochen. Sie zitieren aus dem Koran: ›Der Tag des Gerichts rückt für die Ungläubigen näher, während sie sich achtlos abwenden.‹ Und jetzt kommt das Interessante: Mumbai wird in jedem der Traktate explizit erwähnt.«
Sartaj hörte, wie Anjali Mathur in etwas blätterte. Durch die offene Tür konnte er das Ende einer Bank, einen leeren Korridor und einen etwas struppigen, von einer Mauer gesäumten Garten sehen.
»Hier«, sagte sie jetzt. »Da heißt es: ›Ein großes Feuer wird die Ungläubigen erfassen, und es wird seinen Anfang in Mumbai nehmen.‹ In den anderen Traktaten findet sich diese Zeile mit geringfügigen Änderungen wieder. ›Ein Feuer wird in Mumbai seinen Anfang nehmen und das ganze Land erfassen^ Mumbai wird immer wieder erwähnt.«
Sartaj war empört. »Was haben diese Mistkerle denn gegen Mumbai? Andere Städte werden nie genannt?«
»Nein. Es ist nur von Indien als Dar-ul-harb 152 und von seiner bevorstehenden Zerstörung die Rede. Auf der Zerstörung beharren sie. Der Name der Gruppe setzt sich aus ›Hizbul‹ und ›din‹ zusammen: ›Hizbul‹ steht für Armee, und ›din‹ wird hier, glaube ich, im Sinne des Jüngsten Gerichts gebraucht. Das Wort kann auch Religion oder Verhalten bedeuten, aber hier bezieht es sich mit Sicherheit auf das erste Kapitel des Koran. Hizbuddin ist also ›die Armee des Jüngsten Tages‹. Na ja, eine Verbindung läßt sich aus alldem nicht zwingend ableiten. Aber irgendwie kam mir der Name der Organisation bekannt vor. Ich habe neulich unsere Akten zu dem Falschgeld, das über die Grenze kommt, durchgearbeitet und daraufhin noch einmal die Datenbanken überprüft. Hizbuddin wird fünfmal als Quelle großer Mengen von Falschgeld genannt. Die in diesen Fällen beschlagnahmten Banknoten entsprechen haargenau denen von Kalki Sena, denen aus Jojos Wohnung und denen in Gaitondes Bunker.«
Sartaj tat langsam der Kopf weh. Was für eine Verbindung konnte es zwischen Jojo und fanatischen Extremisten geben, die die Vernichtung prophezeiten? Und zwischen Gaitonde und dieser muslimischen militanten Gruppe? Vielleicht gab es ja überhaupt keine Verbindung. Er preßte die Finger gegen die Stirn und sagte: »Das ist alles immer noch zu vage.«
»Ja, das sehe ich auch so. Es gibt keinen Grund, von diesem Geld auf eine Verbindung zu schließen. Wir haben nur Möglichkeiten. Nichts, was sich zwingend zusammenfügt. Nur weitere Fragen: Wer ist dieser Guru? Was für eine Beziehung hatte Gaitonde zu ihm?«
»Ich werde mich damit befassen.«
»Ja, und ich werde hier weiterforschen.«
Die Arbeit ging also weiter. Sartaj blieb noch eine Stunde auf der Wache, dann fuhr er heim. Er legte die Beine auf den Kaffeetisch und trank seinen Whisky, heute nur ein Glas, und nur ein kleines. Ihm war bewußt, daß er immer noch arbeitete, daß er an Jojo und Gaitonde und dicke Batzen Geld dachte. Das war eine der Sachen, die Megha an ihm gehaßt hatte: daß das, womit er in seinem Beruf gerade beschäftigt war, in seinem Innern ständig weiterarbeitete. Er trank Tee, redete über Verwandte, ging ins Kino, und irgendwo in seinem Innern setzten sich die Bruchstücke eines Mordfalls zusammen. Er hatte ihr immer zu erklären versucht, daß er das nicht absichtlich tat, daß er aufhören würde, wenn er könnte. Doch das hatte es für Megha irgendwie noch schlimmer gemacht, daß es ein Impuls war, ein Instinkt. Aber dieser Instinkt hatte ihm so manche unvermeidliche Lektion erteilt, und Sartaj hatte gelernt, ihm zu vertrauen. Jetzt sagte ihm sein Instinkt, daß diese Fragmente irgendwie ein Ganzes ergaben. Manchmal wußte man das, manchmal schmeckte man die Wahrheit auf der Zunge, auch wenn man keine Beweise in der Hand hatte. Und manchmal handelte man auf der Basis dieses Wissens, man schob Beweisstücke unter, schrieb einen Bericht, in dem man bestimmte Fakten wegließ und andere hinzufügte. Manchmal mußte man ein wenig nachhelfen, damit Justitia wirklich blind war.
In dieser Gaitonde-Angelegenheit würde es keine Gerechtigkeit, keine Wiedergutmachung geben. Es gab nur die Hoffnung, wenigstens den Ansatz einer Erklärung für das zu finden, was passiert war. Und diese schleichende Angst. Sie kam mit der Entspannung, noch verstärkt durch die Bilder aus einem amerikanischen Katastrophenfilm, in dem per Spezialeffekt ganze Städte von einer Feuersbrunst vernichtet wurden. Bleib dran, ermahnte er sich, laß nicht locker. Tu deine Arbeit. Also schloß Sartaj die Augen,
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