Der Pate von Bombay
Ich spürte sie im Herzen, spürte sie im Bauch. Was für ein endloses Tauziehen wir doch mit der Begierde veranstalten, dachte ich. Was für ein Ziehen und Zerren, was für ein Hin und Her. Welche Qualen und welche Ekstase in der Qual!
Ja, auch für mich war es merkwürdig, daß ich, Ganesh Gaitonde, der ich einst schon bei der Erwähnung des Göttlichen Verachtung verspürt und all das Gerede vom Trost der Religion als Schwäche betrachtet hatte, nun treuer Anhänger eines Gurus war. Wie hatte das geschehen können?
Es war dazu gekommen, weil Guru-ji und ich irgendwann begonnen hatten, uns ernsthaft zu unterhalten. Nach unserem ersten Gespräch, als ich ihn genötigt hatte, mich im Gefängnis anzurufen, hatte ich nicht damit gerechnet, je wieder von ihm zu hören. Schließlich mußte er sein Image schützen, seine weltweite Mission. Doch zehn Tage nach meiner Entlassung und meiner Ausreise aus Indien meldete er sich. Er hatte seine Leute gebeten, über Bunty meine Nummer in Erfahrung zu bringen, und plötzlich hatte ich ihn an der Strippe, Shridhar Shukla höchstpersönlich, mit seiner volltönenden Stimme und seiner exquisit akzentuierten Sprache. Millionen rissen sich um diesen Mann, und trotzdem nahm er sich die Zeit, sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen. Ich war zynisch, wartete darauf, daß er mich um etwas bat, wie es noch jeder, der bei mir anrief, getan hatte. Doch er hatte nichts zu regeln, wollte weder Geld noch Rache, er wollte einfach nur mit mir reden.
»Soso, Sie wollen mit mir reden«, sagte ich. »Und worüber?«
Er hörte zweifellos den Hohn in meiner Stimme, antwortete jedoch ganz ruhig: »Was immer dich gerade beschäftigt.«
»Na gut. Ich habe eine Frage.«
»Bitte.«
»Ich glaube nicht, daß Sie ein echter Guru sind.«
Er lachte. »Das ist keine Frage. Aber es ist völlig in Ordnung. Was meine Person betrifft, mußt du überhaupt nichts glauben.«
Dann schwieg er. Es machte mich wütend, daß er sich nicht provozieren ließ. Ich wartete ab, war kurz davor, das Gespräch abzubrechen, doch schließlich redete ich weiter, denn ich war tatsächlich neugierig. »Sie können kein echter Guru sein, weil ich in Ihrem Auftrag diese Arbeit tue.« Ich meinte natürlich die vielen Waffen, die ich für ihn ins Land schmuggelte. »Menschen, die in ihrer spirituellen Entwicklung weit fortgeschritten sind, sind friedlich. Sie sind gegen Gewalt.«
»Wer hat dir denn das erzählt?«
»Das weiß doch jeder.«
»Du glaubst also, daß du selbst in deiner spirituellen Entwicklung noch nicht sehr weit gediehen bist?«
Ich errötete und richtete mich auf. »Wir reden gerade über Sie.«
»Gut, Ganesh, gut. Es hat mich einfach nur interessiert, woher du diese Vorstellung von spiritueller Entwicklung hast. Man hört das heutzutage überall, jeder wiederholt es, aber niemand kann erklären, warum er das glaubt.«
»Es ist doch offensichtlich, oder?«
»Nein.«
Wieder schwieg er. Dieser Mistkerl. »Hören Sie«, fauchte ich. »Lassen Sie diese Spielchen, und sagen Sie es mir einfach. Ich formuliere es Ihnen gern als Frage: Wie können Sie ein echter Guru sein und zugleich tun, was Sie tun?«
»Weißt du denn, was ich tue?«
»Teilweise schon. Ich weiß es, soweit ich selbst daran beteiligt bin, und dieser Teil ist alles andere als friedlich.«
»Ja, du weißt über deinen Teil Bescheid. Du weißt das wenige, was du sehen kannst. Und du hast gelernt, daß ein Mahatma friedlich sein muß. Aber siehst du den Gesamtzusammenhang?«
»Ich kenne natürlich Ihren Plan nicht.«
»Denk an einen noch größeren Zusammenhang. Denk an das Leben. Meinst du denn, im Leben gäbe es keine Gewalt? Das Leben speist sich aus dem Leben, Ganesh. Und der Ursprung des Lebens ist pure Gewalt. Weißt du, wo unsere Energie herkommt? Von der Sonne, wirst du sagen. Alles hängt von der Sonne ab. Wir leben wegen der Sonne. Aber die Sonne ist kein friedlicher Ort. Sie ist ein Ort unglaublicher Gewalt. Sie ist eine einzige Explosion, eine Kette von Explosionen. Wenn diese Gewalt endet, geht die Sonne zugrunde, und damit auch wir.«
»Das ist etwas anderes. Es ist nicht vergleichbar mit dem Mord an einem Menschen. Oder gar an vielen.«
»Alle Menschen müssen sterben.«
»Aber nicht, weil ihnen jemand Ihre Kugeln in den Kopf jagt.«
»Man schafft also Frieden, indem man nicht tötet?«
Ich wußte, daß das nicht stimmte. Ich wollte ihm widersprechen, aber ich wußte, daß Gewaltlosigkeit nie Frieden brachte. Wenn etwas
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