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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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häufigerer Wiederholung. Alles kollidiert, driftet auseinander und bewegt sich in großem Bogen wieder aufeinander zu.«
    »So ist es, Ganesh, so ist es«, bestätigte er mit freudig dröhnender Stimme, »siehst du, du hast es bereits verstanden. Ich hätte es dir gar nicht erklären müssen. Du weißt es schon. Du bist schon auf dem Weg.«
    »Auf dem Weg zu Ihrem Gott? Nein, das glaube ich nicht.«
    »Du darfst nicht denken, daß ich mich für Vishnu oder irgendeinen anderen Schöpfergott stark mache, Ganesh. So schlicht bin ich nicht gestrickt, das weißt du. Hör mich an: Erhebe dich durch diese Symmetrien noch höher. Erkennst du die Muster, die der Welt, dem Universum zugrunde liegen? Die Wellen unter dir, unter deinem Schiff, mögen chaotisch erscheinen, aber sind sie es? Nein, höchstens in einem unwesentlichen Sinne. Es gibt eine Ordnung, die sich uns manchmal zeigt und manchmal entzieht. Doch sie ist da. Eine grundlegende Ordnung jenseits des Hier und Jetzt. Geh an Land, Ganesh, und betrachte eine Wiese. Schau dir an, wie die Sonne dem Gras Kraft gibt und die Erde es nährt. Sieh, daß das Gras andere Geschöpfe beherbergt und sie ihrerseits nährt. Erkennst du, daß das alles zusammenpaßt? Und erkennst du schließlich und endlich die Schönheit in alledem?«
    Mir barst schier der Kopf. Ich glaubte in vagen Umrissen zu begreifen, was er meinte, doch mit jedem Atemzug entglitt es mir wieder. Er wußte das. Er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, sondern bis zur folgenden Woche einfach die Augen offenhalten. »Geh mit allem ganz normal um. Doch versuche gleichzeitig, darüber hinauszublicken. Und nächste Woche erzählst du mir dann, was du gesehen hast, ob es nur Beliebigkeit war oder Form. Chaos oder Ordnung.«
    Schon fünf Minuten nach unserem Telefonat lachte ich mich selbst aus. Du Schwächling, dachte ich, hörst auf das Gebrabbel eines alten Mannes. Doch er hatte ein Samenkorn in mich gepflanzt. Wider Willen begann ich nach Verbindungen und Spiegelungen Ausschau zu halten. Und ich fand sie. Ich dachte darüber nach, auf welche Weise Männer und Frauen einander brauchten und daß es mit der Menschheit immer weiterging, trotz all der Streitereien und gebrochenen Herzen. Das war offensichtlich, ja banal, wenn man mal einen Schritt zurücktrat. Dann aber dachte ich an Empfängnis und Geburt, an das winzige Würmchen, das sich zappelnd zu dem gigantischen Ei vorarbeitet, an die Vermischung der jeweiligen geschmuggelten Informationen - das alles, um ein neues Geschöpf hervorzubringen, das eines Tages selbst seine Emissäre losschicken würde. Ganz alltäglich und zugleich so kompliziert und erstaunlich. Ich kam mir albern vor, weil es mich mit solchem Staunen erfüllte, die profane Oberfläche wahrzunehmen, hinter der sich die kompliziertesten Universen verbargen. Doch ich sagte nichts und schaute weiter, so wie er es mir aufgetragen hatte. Gegen Ende der Woche verlagerte sich meine Aufmerksamkeit von einzelnen Dingen auf Entwicklungen. Ich hatte Fernsehsendungen über die Dinosaurier und ihr Aussterben gesehen, über den Aufstieg der Säugetiere (meine Jungs hatten gestöhnt und um einen zweiten Fernseher gebettelt, damit sie zu ihren tänzelnden Heldinnen zurückkehren konnten), hatte mir angeschaut, wie vor langer Zeit behaarte Affen in der afrikanischen Savanne ihre ersten Tiere erlegten. Dies war die große Kurve des Lebens auf unserem Planeten, die bis zu den Menschen reichte, bis zu mir. Sie hatte eine Richtung und eine eigene Geschwindigkeit, strebte nach oben und würde es weiter tun, zum Mond und dann zu den Sternen. Doch was war mit meinem eigenen Leben? Besaß es eine Form? Lag Schönheit in seinem Fortschreiten, erkannte man sie, wenn man nur weit genug zurücktrat? Ich dachte darüber nach, war voller Sorge. Konnte es wirklich sein, daß ich von den Wogen der Ereignisse planlos herumgeworfen wurde? Daß ein Tag auf den anderen folgte, nur weil es eben so war, ohne Grund? Ich konnte das nicht akzeptieren. Dieses wirre, wabernde Chaos bereitete mir körperliche Schmerzen, ein krampfartiges Ziehen im Magen, Kopfweh, und auch meine Hämorrhoiden meldeten sich wieder, so daß ich schwindlig und zitternd auf der Toilette saß. Mein Körper wehrte sich gegen die Behauptung, mein Leben habe keinen Sinn. Doch, mein Leben hatte Form. Ich hatte allein und arm begonnen, ich hatte gekämpft, ich hatte gewonnen, ich war aufgestiegen, ich hatte eine Heimat gefunden und viele Menschen, die mich liebten.

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