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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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elf, rollte sich kraftvoll durch den mittleren Gang, gefolgt von einer Gruppe Sadhus. Man hatte eine Rampe zum Podium gebaut, über die er hinauffuhr. Und eh ich's mich versah, stand ich, tanzte, Ellbogen an Ellbogen mit seinen anderen Anhängern, und rief: »Jai Gurudev.« Er hörte unserem Sprechchor eine Weile zu, dann hob er die Hand. Wir verstummten. Er hievte sich allein von seinem Rollstuhl vor die Mikrophone und sagte: »Setzt euch«. Er hatte kräftige Arme, das konnte ich sehen.
    Er sprach über Opfer, über den Altar. Die Größe des Altars müsse auf einem bestimmten Maß des Opfernden basieren: Das mittlere Glied des Mittelfingers messe ein Angula, und hundertzwanzig Angulas ergäben ein Purusha. Die Sadhus müßten nun ein Quadrat mit einem Seitenmaß von zwei Purushas beziehungsweise zweihundertvierzig Angulas auslegen. »Wer aber«, fragte Guru-ji, »ist der Opfernde? Wir sind nur die Priester, doch wer wird der Yajman 671 sein?« Er hielt kurz inne, dann beantwortete er seine Frage selbst: »Früher waren die Charkravartins, die Weltherrscher, die Opferherren des Sarvamedha 564 . Doch die Zeit der Weltherrscher ist vorbei. Wer ist heute der Herrscher? Wer hat die Macht, die Führung inne? Ihr. Ihr, die Allgemeinheit. Von euch, von euren Wählerstimmen geht die Macht aus. Heute seid also ihr, die Allgemeinheit, die Opfernden, der Yajman. Jeder einzelne von euch ist der Yajman. Deshalb haben wir ein statistisches Durchschnittsmaß ermittelt: Unsere Arzte haben bei zweitausend Männern aus ganz Indien Maß genommen, und der Mittelwert wird unser Angula sein. Ihr, meine Freunde, seid unser Purusha.«
    Nun legten die Priester mit Schnüren und Stäben ihr nach der Sonne ausgerichtetes Quadrat aus, seine Ränder, die sich überschneidenden Kreise. Unterdessen sprach Guru-ji weiter. Er erzählte uns, daß das Universum durch ein Opfer geschaffen worden sei: Die Götter hätten Purusha geopfert, und aus seinem Fleisch, seinen Gliedern sei die Schöpfung erstanden. Alles Seiende, alles, was jemals existiert habe oder existieren werde, sei durch dieses erste Opfer entstanden. Und jeder, der ein Opfer darbringe, eifere darin jener ersten Selbstopferung nach. Der Opfernde wiederhole jenes erste Opfer, und indem er das tue, erhalte er das Universum aufrecht. »Der Opfernde wird zu Purusha, er wird jenes ursprüngliche Wesen, das sich selbst teilte, um alles andere zu erschaffen. Da das so ist, müßte sich der Yajman, genau genommen, selbst opfern - wenn er Purusha ist, müßte er sich selbst opfern, um Leben zu spenden. Doch das werden wir nicht von euch verlangen, so werden Opfer schon seit vielen Jahren nicht mehr vollzogen. Anstelle unser selbst geben wir bestimmte Dinge ins Feuer, die opferungswürdig sind. Einst wurden statt Menschen Kühe geopfert oder Pferde, Ziegen, Widder. Wir werden bestimmte Getreide, bestimmte Blumen, bestimmte Gräser verwenden. Aber vergeßt nicht, daß wir, wenn wir diese ins Feuer werfen, eigentlich uns selbst opfern. "Wenn ihr der Yajman seid, ihr alle, dann opfert ihr euch selbst, eure Körper. Was wir ins Feuer werfen, ist nur ein Ersatz, den die Götter akzeptieren. Aber eigentlich werdet ihr geopfert. Ihr seid Purusha. Ihr müßt sterben, damit das Universum weiterbestehen kann.«
    Die Priester bauten unterdessen den Altar. Wir sahen ihnen auf den Bildschirmen zu. An einer bestimmten Stelle auf der exakt ausgemessenen und ausgerichteten Fläche legten sie eine Seerose nieder, und auf diese legten sie eine goldene Scheibe. Dies waren die ersten Gewässer und die Sonne. Darauf stellten sie vorsichtig eine kleine goldene Figur: Purusha, der der Yajman war, der wir waren. Und über Purusha errichteten sie aus fünf Lagen Ziegel den Altar, der die Form eines großen Adlers besaß. »Ein Adler hat den heiligen Soma 599 vom Himmel auf die Erde gebracht«, erklärte uns Guru-ji. »Und so werden wir durch das Opfer wieder von dieser göttlichen Glückseligkeit trinken. Durch den Flug des Opfers werden wir Erkenntnis kosten. Wir werden das Selbst und das Universum erkennen.«
    Unter dem bunten Segeltuch der Zeltdächer hing ein weißes, strahlendes Licht. Draußen war es bedeckt, recht kühl für einen Tag lange nach Ende des Monsuns. In der Menge herrschte eine ganz eigene Ruhe. Die Leute kamen, traten umeinander herum, die Hand freundlich auf die Schulter des Sitzenden gelegt, setzten sich, gingen wieder, wenn sie gehen mußten. Guru-jis Stimme, die tief war wie das Meer, und die

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