Der Pate von Bombay
versuchte ihn wegzuführen. Wer war dieser Mann? Kiran kannte seinen Geruch, dieses vergilbte Hemd, die langen Hände, doch er erinnerte sich nicht an seinen Namen. »Wer hat das getan?« fragte Kiran, obwohl er es bereits ahnte. Der Mann schüttelte den Kopf, versuchte ihn wegzuführen. Kiran brüllte, riß sich los und fragte wieder: »Wer hat das getan? Wer? Wer?« Eine heisere Stimme stieß hervor: »Sagt es ihm«, und trotzdem war es danach wieder einen Moment lang still. Dann sagte der Mann, der Kiran festhielt: »Dein Vater. Er ist verschwunden.« Und er setzte hinzu: »Deine Aai 000 ist unten, bei den Frauen.«
Die Polizei kam, die Frauen gingen, die Leiche wurde abgeholt, und dann war Kiran allein mit seiner Mutter, die im Schlafzimmer zusammengekauert neben einem Holzschrank hockte, das verfilzte Haar im Gesicht.
»Tja«, sagte Gaitonde zu Guru-ji, »mein Vater hat also diesen Suryakant umgebracht und ist verschwunden. Keiner hat ihn je wiedergesehen. Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Und deine Mutter?«
»Ich bin bei ihr geblieben, bis ich zwölf war. Dann bin ich weggelaufen, nach Bombay.«
»Du weißt nicht, wo sie ist?«
»Nein.«
Die andern im Dorf hatten sie gemieden. Bis auf die Männer, die vorbeikamen und Sumangala versicherten, sie habe nichts zu befürchten, sie würden sich um sie kümmern, es werde ihr an nichts fehlen. Die Männer brachten - wie zuvor Suryakant - Gemüse, Saris und Geld mit. Zurück zu ihren Eltern konnte sie nicht gehen, denn die wollten sie nicht bei sich haben. Also blieb sie in dem Haus, das einer ihrer Kunden inzwischen hatte neu tünchen lassen. Denn das waren sie: Kunden. Und Kiran bekam nun die geballte Verachtung des Dorfes zu spüren. Sie nannten ihn ganz offen einen Harami 261 , und die älteren Jungs machten anzügliche Witze über seine Mutter, über ihren Körper, ihre Praktiken und Neigungen. Es verging kein Tag, an dem sein eigener Körper nicht von blauen Flecken übersät gewesen wäre, alten wie neuen. Er unterlag in jeder Prügelei, doch als er eines Tages einen großen Stein nach einem seiner Peiniger schleuderte und nur knapp dessen Kopf verfehlte, begriff die Bande, daß er einen von ihnen hatte umbringen wollen, und nun riefen sie ihm ihre Beleidigungen aus einer gewissen Distanz zu. Er begann ein Messer zu tragen, und sie nannten ihn einen Irren. Er wartete ab, und als er irgendwann seine Angst vor der unbekannten weiten Welt überwinden konnte und das Gewicht des Messers unter seinem Hemd ihm ein Gefühl der Stärke gab, ging er zu Fuß die vierundzwanzig Kilometer zum nächsten Bahnhof und wartete auf einen Zug. Name, Fahrtziel und Abfahrtszeiten des Zuges hatte er schon in Erfahrung gebracht. Als der Zug kam, quetschte er sich in einen der vollen Wagen. Keiner beachtete ihn. Es gab nirgendwo eine Sitzgelegenheit, also lehnte er sich gegen einen Stapel großer Metalltruhen im Gang und wartete abermals. Die Kanten der Truhen schnitten ihm in Rücken und Beine, aber es war ein guter Schmerz. Er fuhr weg. Bei jeder Haltestelle fragte er: »Ist das Mumbai?« Als ein Mann »ja« sagte, stieg er aus. Doch der Mann hatte ihn zum Narren gehalten. Am liebsten wäre er mit dem Messer auf ihn losgegangen, aber der Zug war schon fort. Kiran wartete auf den nächsten Zug. Schließlich kam die Stadt, und jetzt wartete er, bis die Gebäude hoch wurden und eng zusammenrückten und die Straßen voller Autos waren. Er fragte nicht noch einmal. Als er sich seiner Sache sicher war, stieg er aus.
»Und dann warst du zu Hause«, sagte Guru-ji leise. »Wann bist du zu Ganesh geworden?«
»Als mich das erste Mal jemand nach meinem Namen gefragt hat. Ich weiß nicht, warum. Ich habe es einfach gesagt.«
»Ganesh ist der Überlebende. Er übersteht alles, egal was. Er triumphiert.«
Ich saß lange schweigend da, Guru-jis Hand auf dem Kopf. Ich war völlig erschöpft, als hätte ich einen Gipfel erklommen und wäre wieder ins Tal hinabgestiegen, doch zugleich war ich von Ruhe erfüllt. Und mit jedem Pulsschlag wurde ich stärker.
»Ganesh, Beta«, sagte Guru-ji, »du solltest jetzt gehen. Sonst machen sich meine Assistenten noch Gedanken.«
»Ja, Guru-ji.«
»Es war riskant, aber ich bin froh, daß du gekommen bist. Besuch mich in Singapur, wie geplant.«
»Ja, Guru-ji.«
Er zog mich an sich, drückte meinen kahlen Schädel an seine Wange. Dann schickte er mich fort. Ich berührte noch einmal seine Füße und ging. Doch ich verließ nur seinen Körper, seinen
Weitere Kostenlose Bücher