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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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erzählen. »Diese Israelis erfassen die Psychologie ihrer Opfer sehr genau«, sagte er. Manchmal war ich froh, daß seinen hellseherischen Fähigkeiten gewisse Grenzen gesetzt waren. Was er allerdings deutlich sah, das waren Bilder von gewalttätigen Männern, die ihn suchten, die Jagd auf ihn machten, und deshalb verschärfte er seine persönlichen Sicherheitsvorkehrungen. Ich beriet ihn dabei. Schließlich war es mir in Bombay gelungen, bis zu ihm vorzudringen, ohne auch nur einmal durchsucht zu werden.
    Ich für mein Teil erfaßte die Psychologie von Guru-ji nicht einmal ansatzweise, ich wußte bloß folgendes über ihn: Er war in der Nähe von Sialkot geboren, am 14. Februar 1934 um 21 Uhr 42. Aufgewachsen war er an verschiedenen Orten im westlichen Punjab, die Familie war mit dem Vater, einem Flugzeugtechniker, von einem Luftwaffenstützpunkt zum anderen gezogen. Durch die Teilung des Landes verschlug es sie in den Osten; sie legten ihren Weg unter dem Schutz der Streitkräfte wohlbehalten zurück und ließen sich erst in Jodhpur, dann in Pathankot nieder. Guru-ji wurde zu einem gefeierten Sportler, von der achten Klasse an war er der Kapitän jeder Kricketmannschaft, für die er spielte. Man hoffte, ja rechnete damit, daß er einmal für die Nationalmannschaft spielen würde. Einen Tag vor seinem achtzehnten Geburtstag lieh er sich in Pathankot das Motorrad seines Vaters aus, um sich zu einem Kinobesuch mit seinen Freunden zu treffen. Nicht weit vom Haupteingang des Stützpunkts entfernt, in der Nähe des erbeuteten pakistanischen Panzers mit dem nach unten zeigenden Geschützrohr, geriet er ins Schleudern und kam von der Straße ab. Es war ein sonniger, schöner Tag, und die Straße war weder naß noch ölverschmiert gewesen. Man fand nie heraus, warum es passierte. Die Militärpolizei entdeckte ihn und brachte ihn ins nahe Militärkrankenhaus, wo man sich sofort um ihn kümmerte. Doch einer seiner Lendenwirbel war zerstört, und seine untere Körperhälfte blieb gelähmt. »An meinem ersten Tag als Mann erwachte ich«, erzählte er mir in Singapur, »und mußte feststellen, daß ich nur noch ein halber Mann war. Aber dafür, Ganesh, hatte ich etwas anderes.«
    Dieses andere waren seine Visionen. Vor dem Unfall war er ein ganz normaler Punjab-Junge gewesen, der sich für Kricket, schnelle Motorräder und gutes Essen, für seine Yaars und seine Prüfungen interessierte. Er glaubte auf eine eher allgemeine Weise an den furchtlosen Hanuman, ging mit seiner Mutter in den Tempel und tratschte bei Hochzeiten, während die Priester sangen. Dies war das ganze Ausmaß seiner Spiritualität. Doch nach seinem Unfall hatte er Visionen. Er sah die Vergangenheit und die Zukunft. Es waren keine traumartigen, wirren und veschwommenen Bilder. Er sah Details, sah die Farbe der Zunge eines Mannes, die Stickerei auf dem Taschentuch einer Frau. Er roch Bratöl, hörte Wasser auf Backstein tropfen. Zwei Tage nachdem er das Bewußtsein wiedererlangt hatte, sagte er zu einer Krankenschwester: »Dieser Mann - Fred? Phillip? -, der Ihnen eine Goldkette geschenkt hat, denkt immer noch an Sie.« Wer im Krankenhaus arbeitet, ist an phantasierende Menschen gewöhnt. Aber diese Krankenschwester hatte eine Liebesbeziehung zu einem deutlich älteren angeheirateten Cousin gehabt, von der nie jemand erfahren hatte - und diesem verletzten Jungen hatte sie nun ganz gewiß nicht davon erzählt. Auf dieser Episode gründete Guru-jis Ruf, der sich erst in der Stadt und bald über ihre Grenzen hinaus ausbreitete. Und dieser Zwischenfall war auch der Beginn seiner großen Reise nach innen, seines Versuchs, das Wesen des Selbst, der Zeit und des Universums zu verstehen. »Ich mußte versuchen zu begreifen, was da mit mir geschah, Ganesh«, sagte er. Sein Krankenhausbett war der Ausgangspunkt seiner Meditationen und Lektüre, seiner späteren Treffen mit Philosophen, Sadhus, Tantrikern und Pandits. Seiner langen, unablässigen Suche. »Durch meine Verletzung habe ich zu mir selbst gefunden«, sagte er. »Ich wurde von außen nach innen gewendet.«
    Was nicht bedeutete, daß er am Außen nicht interessiert gewesen wäre. Er hatte eine Passion für die Naturwissenschaften, für modernes Wissen. Er las jedes wissenschaftliche Magazin, das er in die Finger bekam, und dicke Bücher darüber, was auf der Erde kreuchte und fleuchte, bevor es den Menschen gab, und was durch die Räume der Zukunft fliegen würde. Er verfolgte aufmerksam die Neuerungen und

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