Der Pate von Bombay
Sartajs bescheidene Romanze lustig machen, über das zweifelhafte kleine Kompliment, das ihn und Mary schließlich zusammengebracht hatte. Aber Kamble war noch sehr jung. Gewiß, in keiner Gasele wurde je inbrünstig beteuert, daß der Geliebte kein Idiot sei, kein Liebeslied von Majrooh Sultanpuri hatte es je für nötig befunden, dergleichen zu erklären. Kamble glaubte fest an große Liebesgeschichten und große Tragödien. Doch Sartaj war es zufrieden: Den anderen von seiner Idiotie zu erlösen war ein Akt größter Zärtlichkeit. Wir alle sind Idioten, dachte er. Ich weiß, daß ich einer bin. Es ist wunderbar, einen Menschen zu finden, der einem das verzeiht. Es ist großartig.
Sie blieben an der Strandpromenade, bis die Dämmerung sich verdichtete, das Meer sich ins Dunkel zurückzog und die Wellen zu glatten weißen Bändern wurden. Plötzlich drückte Mary Sartajs Hand und fragte: »Was wird aus den Jungen?«
»Welchen Jungen? Dem Roten T-Shirt und seiner Gang?«
»Ja.«
»Die schlagen sich schon durch.«
»Ja, aber wie?«
Sartaj zuckte die Schultern. »Wie alle anderen auch.«
Sie nickte, doch Sartaj merkte, daß die Jungen sie weiter beschäftigten. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Was Kamble gesagt hatte, nachdem sie die Jungen, Jayanth und das Restaurant verlassen hatten, erzählte er ihr besser nicht. Sie hatten sich über den erstaunlichen, verrückten kleinen Jatin unterhalten, und dann hatte Kamble gemeint: »Dieser Ramu ist der geborene Anführer. In zehn Jahren wird uns der Bastard Probleme machen, Sie werden sehen.« Sartaj hatte zugestimmt. Ramu war gescheit, mutig und gierig. Er würde ein guter Apradhi werden, ein Killer vielleicht. Und dann hatte Kamble gesagt: »Wir sollten ihn auf die Gasse rausholen und ihn fertigmachen, jetzt gleich. Uns die Mühe ersparen, ihm später hinterherjagen zu müssen, und ihm die Mühe ersparen, erwachsen zu werden.« Sartaj hatte gelacht und Kamble mißbilligend auf den Rücken geklopft, aber wahrscheinlich hatte Kamble recht. Manchen Kindern stand ihre Zukunft ins Gesicht geschrieben. Man konnte sehen, wie sehr sie sich nach einem guten Leben sehnten und wie dieses Leben sie fliehen würde. Doch Sartaj wollte nicht an Ramu denken, an dessen Probleme, dessen künftiges Unglück - nicht jetzt. Er hielt Mary im Arm und erzählte ihr von seiner eigenen Kindheit, erzählte ihr, daß er nie Polizist hatte werden wollen wie sein Vater und es schließlich doch geworden war.
Dann schwiegen sie. Über die ganze Breite der Straße hinweg hörte Sartaj das Geträller, Gelächter und Gejohle einer Gruppe Teenager, Jungen und Mädchen. Sie saßen in der Nähe der Bushaltestelle auf Kühlerhauben und Motorradsitzen, und sie waren jung und selbstbewußt, vergnügt und reich. Sie flirteten, und später am Abend würden sich einige von ihnen vielleicht einen Winkel suchen, in dem sie sich berühren, einander gierig erkunden konnten. Sartaj aber war glücklich, daß er einfach Marys Hand halten konnte und daß sie sich, als er sie später mit dem Motorrad nach Hause brachte, an seinen Rücken schmiegte. Als er an einer Kreuzung hielt, tönte aus einem Auto neben ihnen der berühmte Refrain eines alten Songs: »Tu kahan yeh bataa, is nasheeli raat mein.« 642 Mary summte an seiner Schulter mit.
»Kennst du das Lied?« fragte Sartaj.
»Natürlich. Das ist Dev Anand, oder?«
Ja, es war Dev Anand, es war Dev-saab, wie er in einem alten Schwarzweißfilm durch eine neblige Nacht wanderte. An den Titel erinnerte sich Sartaj nicht mehr - Missouri oder Nainital vielleicht, oder nein, Shimla, ja, Shimla mußte es sein -, und Dev schritt schwerelos wie die Melodie dahin, leichtfüßig und geschmeidig, und die schöne Nutan wartete auf ihn. Als die Ampel grün wurde, fuhr Sartaj langsam neben dem Auto her, weg von Marys Haus, damit sie noch zuhören konnten. »He, chand taaron ne suna, in bahaaron ne suna, dard ka raag mera, rehguzaron ne suna 267 .« Der Wind strich sacht über Sartajs Wangen, Mary sang ihm ins Ohr, und er lachte und dachte, das ist Glück, dieses wenige: durch die vertrauten chaotischen Straßen zu fahren, mit einem alten Song, mit einer Hand auf deiner Hüfte, mit einer neuen Liebe. Dieses wenige, zwischen Vergangenheit und Zukunft: diese Frau, dieses Lied, diese schmutzige, schöne Stadt.
Als der Song endete, scherte Sartaj aus, gab abrupt Gas und hängte das Auto ab. Bei Mary angelangt, küßte er sie zweimal und dann noch einmal. Es war ganz leicht.
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