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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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Sie stieg ab und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie stand dicht vor ihm, und er beugte sich vor und küßte sie. Sie schloß die Augen, und er küßte sie wieder. Sie sah ihn unter langen Wimpern hervor an, sie lächelte breit, und er küßte sie. »Geh«, sagte sie und stieß ihn sanft gegen die Brust. Er ging, und er sang - schlecht, das wußte er - auf der ganzen Heimfahrt.

    Er spürte Marys Küsse noch am nächsten Morgen, als er zu Katekars Familie fuhr. Er stellte das Motorrad ab und stieg über den Rinnstein. Es war noch früh, noch nicht einmal sieben, und in der engen Gasse war es ruhig. Shalini aber saß schon in der Tür und las Steinchen aus einem Berg Reiskörner. Sie stand auf, als sie Sartaj sah, nickte ihm zu und ging ins Haus. Rohit brachte einen Stuhl für Sartaj heraus. Er hatte jetzt einen Schnurrbart, einen zarten Flaum, mit dem er noch jünger wirkte. »Hi«, sagte er.
    Sartaj unterdrückte ein Lächeln über Rohits cooles Englisch und antwortete ebenfalls mit einem Hi. »Was macht dein Kurs?« fragte er. Er setzte sich und zog einen Umschlag aus der Gesäßtasche. Rohit besuchte neuerdings einen Computer-Abendkurs und hatte Sartaj am Telefon allerlei von E-Mails, Linux und anderen für Sartaj unverständlichen Dingen erzählt.
    Rohit nahm den Umschlag und blätterte die Hundert-Rupien-Scheine darin durch. »Thank you«, sagte er. »Gut geht's mit dem Kurs. Ich finde alles sehr interessant.«
    Aber er wirkte ernst. Er trug neue Jeans und ein Banian, und seine Haare sahen irgendwie anders aus. Offensichtlich wollte er durch sein Äußeres einen anderen Menschen aus sich machen, einen der »Hi« und »Thank you« sagte, der einen Computerkurs sehr interessant fand. Aber es klappte nicht recht. Die Jeans waren aus billigem Stoff, mit lockeren orangefarbenen Nähten, die weit hinter dem internationalen Schick zurückblieben, und die blauen Sneakers, die im Haus an der Tür standen, wirkten genauso verzweifelt hoffnungsvoll. Bestimmt gab es in dem Kurs Jungen und Mädchen, die fließend Englisch sprachen und sich in den Feinheiten von T-Shirts und dunklen Sonnenbrillen auskannten, und wahrscheinlich machten sie Rohit das Leben schwer. Sartaj empfand einen Anflug von Mitleid, als Rohit so an der Wand lehnte und ihm berichtete, wie hart in den Kursen gearbeitet wurde und daß einige der Absolventen in Bahrain Arbeit gefunden hatten.
    Shalini brachte ein Glas Tee heraus. Sartaj richtete sich auf: Auch sie sah anders aus. Er trank von dem Tee, hörte ihr zu und versuchte herauszufinden, was sich an ihr verändert hatte. Sie erzählte von ihrer Arbeit, nicht von den Putzjobs, mit denen sie ihr Geld verdiente, sondern von der ehrenamtlichen Mitarbeit in ihrer Organisation. Die Gruppe nannte sich SMM als Abkürzung von Shakti Mahila Manch 580 und kümmerte sich in den Bastis um die Aufklärung der Frauen. »Wir sprechen mit ihnen über Hygiene und Familienplanung«, sagte sie zu Sartaj. »Aber wenn wir ihnen sagen, sie sollen ein eigenes Bankkonto eröffnen, rasten ihre Männer aus.«
    Sartaj lachte. »Die denken, ihr wollt ihnen die Zigaretten und den Alkohol streitig machen. Paßt bloß auf.«
    Jetzt lachte auch Shalini. »Die spucken große Töne, aber sie tun uns nichts. Dafür schlagen sie ihre Frauen. Schöne Helden! «
    »Da ist doch kürzlich diese Sache passiert«, sagte Rohit. »In Bangalore.«
    »Ja. Unsere Gruppenleiterin hat uns davon erzählt. Letzten Monat war das. Die Frauen aus der Sektion Bangalore wurden in einem Basti von ein paar Männern bedroht, Mitgliedern einer religiösen Organisation. Sie haben sich bei der Polizei beschwert, aber die wollte nichts unternehmen, und sie mußten sich an die gesetzgebende Versammlung wenden. Das gibt noch Ärger.«
    Sartaj dachte an Mary, spürte nach, wie sich ihre Oberlippe an seiner angefühlt hatte. Und plötzlich wußte er es: Shalini hatte sich die Augenbrauen gezupft. An die Stelle einfacher, grober Pinselstriche waren klar umrissene, zarte Bögen getreten. Die Veränderung betonte ihre Wangenknochen, ihre Augen. Sartaj hatte Shalini nie wirklich wahrgenommen, für ihn war sie immer Bhabhi gewesen, Katekars Frau. Jetzt betrachtete er sie genauer. Sie trug einen dunkelblauen Sari und eine Bluse aus demselben Stoff, aber mit blauer Stickerei an Ausschnitt und Ärmeln. Nie mehr würde sie Rot, Gelb oder Grün tragen, es sei denn, sie heiratete wieder. Sie trug keinen Schmuck, und ihr Haar war zu einem ordentlichen Knoten gebunden. Sie war

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