Der Pate von Bombay
alles andere als hübsch, hatte aber eine sparsame Eleganz an sich, die Sartaj bisher nicht aufgefallen war. »Probleme gibt es immer«, sagte er, und plötzlich überfiel ihn schmerzhaft der Gedanke an seinen toten Freund Katekar. Ob Shalini einen Freund hatte, einen Liebhaber? Sie wirkte ruhig, auch als er von Männern und ihrem Zorn sprach, von möglicher Gewalt.
»Wir müssen weitermachen«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Da können die sich auf den Kopf stellen.«
Mohit erschien in der Tür, schmalbrüstig, nur mit braunen Shorts bekleidet. Er rieb sich die Augen. Unter der linken Brustwarze hatte er ein schwarzes Muttermal. Um den Kopf trug er eine schwarze Schnur mit einem silbernen Amulett daran. Sartaj erinnerte sich, wie Katekar gegen das Amulett protestiert, wie er gegen Unwissenheit und Aberglauben gewettert hatte. Shalini aber hatte darauf bestanden, daß Mohit es trug, als Schutz vor Unglück und Leid. »Na, Mohit?« sagte Sartaj.
Mohit fuhr zusammen. Er hatte geschlafen, und in dem kurzen Moment zwischen Schlaftrunkenheit und Wachheit sah Sartaj seine Wut. Mohit hegte einen tiefen Abscheu gegen ihn, den glühenden Haß eines Kindes. Die anderen hatten es nicht bemerkt, aber Sartaj war erschrocken. Rohit, der am Türpfosten lehnte, tätschelte Mohit den Kopf und sagte: »Wach auf, Kumbhkaran, Onkel Sartaj ist da.«
Mohit zog den Kopf ein, und als er wieder aufsah, wirkte er lieb und harmlos. »Ich hab Hunger, Aai«, sagte er.
»Geh und mach dich für die Schule fertig«, erwiderte Shalini. »Du bist spät dran. Ich bring dir was.« Eine gewisse Schärfe lag in ihrer Stimme, ein sorgenvoller Unterton.
»Ich bin auch spät dran«, sagte Sartaj. »Ich muß los.«
Rohit ging mit Sartaj die Gasse hinunter bis zur Ecke. »Er prügelt sich andauernd«, sagte er unvermittelt. »Und diesen Monat hat er schon zweimal die Schule geschwänzt.«
» Mohit?«
»Ja. Ich passe auf ihn auf, so gut ich kann, aber Aai und ich haben so viel zu tun. So war er vorher nie.«
Vorher - vor dem Ereignis, vor dem Tod, vor dem Moment, als ein flüchtender Apradhi an einem Zaun in der Falle saß. Vor alldem. Mohit würde sein Leben in vorher und nachher einteilen. Und er würde wissen, wer schuld war. »Das gibt sich schon wieder«, sagte Sartaj. »Es braucht Zeit. Das ist alles noch so frisch. Es braucht Zeit.«
Rohit nickte. »Das sagt Aai auch. Sie betet jeden Morgen, besonders für ihn.«
»Wie geht's ihr?«
»Aai?« fragte Rohit abwesend. »Gut.«
Gar so gut wohl kaum, dachte Sartaj. Sie und Katekar hatten viele Jahre zusammen gelebt, und sie hatten zwei Kinder großgezogen. Dennoch hatte sie heute einen Eindruck von Stärke vermittelt. Diese Augenbrauen, ihre Arbeit beim SMM - war das eine neue Shalini, oder hatte er sie bisher nicht richtig gesehen? Frauen waren belastbar, das wußte er. Ma hatte Papa-jis Tod überwunden, sie hatte zwei Tage lang geweint und dann erklärt, es sei unerträglich schmutzig im Haus. Und dann hatte sie saubergemacht, nicht nur drinnen, sondern auch in dem kleinen Vorgarten und im Hof. Sie hatte die Rückwand des Hauses abwaschen und frisch tünchen lassen. Sie hatte weitergelebt, ein wenig karger als zuvor, aber um so leistungsfähiger, um so zäher. Ein paarmal war es Sartaj so vorgekommen - und ihm war nicht ganz wohl dabei gewesen als sei sie nach Papa-jis Tod ruhiger geworden, ausgeglichener, beherrschter.
Sartaj startete sein Motorrad und wendete es. Dann mußte er warten. Ein Mann mit einem Gipsbein hatte Mühe, um die abschüssige Linkskurve herumzukommen. Er mußte seine Krücken in genau die richtige Position bringen, um den Gips über den Rinnstein hieven zu können, aber die Gasse senkte sich zur Mitte hin ab, sie war uneben und sehr schmal. Die Frau neben ihm faßte ihn am Arm und wollte ihm helfen, doch er beschimpfte sie nur mit wutverzerrter Miene, und seine Krücke rutschte im Rinnstein ab.
»Moment«, sagte Rohit.
Er half dem Mann mit dem gebrochenen Bein über den Rinnstein hinweg und ein Stück die Gasse hinunter. Rohit war ein guter Junge. Er übernahm Verantwortung, er war ruhig und zuverlässig, und er liebte seine Mutter.
»Das ist Amritrao, ein Nachbar von uns«, sagte er, als er zu Sartaj zurückkam. »Er ist im Bahnhof Andheri betrunken aus einem Schnellzug gefallen. Und er hat noch Glück gehabt, daß ihm die Beine nicht abgefahren worden sind. Er ist auf den Bahnsteig gefallen, rumms, auf den Zementboden. Und jetzt humpelt er.«
»Und beschimpft seine
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