Der Pate von Bombay
Jahr begann ich einerseits, nachmittags Fernsehen zu schauen, und andererseits zu wachsen. Bis dahin war ich ein ganz normales Mädchen gewesen, nur mein Vater hatte mir besondere Beachtung geschenkt, alle anderen hielten mich für völlig reizlos. Doch dann begann ich zu wachsen. Ich wuchs und wuchs. Meine Mutter war für ihre Zeit recht groß gewesen, einsdreiundsechzig, glaube ich. Mein Vater war zwei, drei Zentimeter größer. Azim war mit einssiebzig der größte in der Familie. Und ich wuchs und wuchs. Während ich die Modenschauen auf MTV anschaute, wurde ich immer länger. Auf Zee wurden Modedesigner, Choreographen und Fotografen interviewt. Ich schaute mir alles an. Und nachts tat mir alles weh. Meine Glieder schmerzten, meine Sehnen dehnten und streckten sich. Ich sah mir Fashion Guru an, übte Englisch und wuchs. Mit Vierzehn hatte ich bis auf Azim alle meine Brüder überholt und im darauffolgenden Jahr auch ihn. Und ich war dünn wie eine Bohnenstange. Die Mädchen aus dem Mohalla sagten mir Gemeinheiten ins Gesicht, und meine Mutter murrte vor sich hin. Mein Vater erklärte sich meine Länge damit, daß ich nach einem seiner Großonkel schlug, der einsvierundsiebzig groß gewesen war. Doch noch ehe ich siebzehn wurde, überrundete ich sogar diesen Onkel, und ich wuchs weiter.
Meine Familie machte sich Sorgen. Wie sollten sie einen Mann finden, der größer war als ich? Und selbst wenn sie einen fanden, würde dieser große Mann eine so hochaufgeschossene Frau wollen? Ich hingegen machte mir keine Sorgen. Ich wußte, wo große Mädchen gefragt waren. Ich wußte, wer ich war. Ich hatte mich nicht nur eingehend mit der Mode befaßt, sondern ebenso mit mir selbst. Mochte es um mich herum auch keiner sehen, ich selber wußte genau, daß ich Potential besaß. Zwei Jahre nachdem Aishwariya Miss World und Sushmita Miss Universe geworden waren, hatte nahe bei unserem Mohalla ein Schönheitssalon aufgemacht. Junge Mädchen und Ehefrauen gingen dorthin, um sich die Augenbrauen zupfen, das Gesicht massieren und sich für Hochzeiten schminken zu lassen. Die Mädchen, die als hübsch galten und von denen meine Brüder träumten, waren alle hell und ein bißchen mollig, sie sahen sittsam aus. Ich kannte meine Farben und Formen, und ich hatte nichts mit diesen Mädchen gemein. Ich war dunkel, galt als häßlich. Aber ich wußte Bescheid. Ich sah in meinem Spiegel, was da war und was getan werden mußte. Ich hatte ausgiebig über Körperhaltung und -Schulung gelesen, über den Laufsteg, den Model-Look und die Schönheitschirurgie. Ich wußte, wo ich hingehen konnte. Ich wußte, wo ich hingehen mußte. Es gab nur einen Ort für mich: Bombay. Also fuhr ich hin.«
Ich hatte sie noch nie soviel reden hören, so lange an einem Stück. Ich glaube, es lag an der Dunkelheit, an meiner unerwarteten Frage und meinen geflüsterten Rückmeldungen - zum Schluß hatte sie ihre Geschichte nicht mehr mir, sondern sich selbst erzählt. Den Rest ihres Weges kannte ich, Jojo hatte mir davon berichtet. Jamila wartete bis zu dem Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag. Dann verließ sie am späten Nachmittag, in eine Burka gehüllt, das Haus. Sie hatte nur ihre Handtasche dabei, darin befanden sich siebentausendvierhundert Rupien, von denen sie einen kleinen Teil im Laufe der Jahre mühsam zusammengespart, den Rest aber aus dem Schrank ihrer Mutter gestohlen hatte. Außerdem hatte sie drei goldene Armreife dabei und etwas Silberschmuck. Sie nahm eine Rikscha nach Nakkhas, über Kashmiri Mohalla, wo sie einen billigen Koffer erstand. Sie hielt ihr Gesicht stets bedeckt und ging gebeugt, so daß man sie für eine fromme alte Frau halten mußte. Schon damals waren ihre schauspielerischen Fähigkeiten beispiellos. Mit ihrem Koffer begab sie sich zu einer Freundin, bei der sie im Laufe der vergangenen Wochen schon einige Kleidungsstücke deponiert hatte. Danach ging sie zum Bahnhof und wartete auf den Pushpak Express. Sie hatte sich bereits zwei Wochen zuvor unter falschem Namen eine Fahrkarte mit Reservierung für den Schlafwagen besorgt. Sie setzte sich ganz ruhig in den Zug und sah zu, wie die Kilometer vorbeiflogen. In Lucknow hatte sie nur einen Zettel hinterlassen, den ihre Mutter abends in der Küche finden würde. Darauf stand: »Es war mein freier Wille zu gehen. Ich habe es so entschieden. Bitte versucht nicht, mich zu finden.« Sie schrieb nicht, wohin sie fuhr, warum, wozu. Und da sie nie jemandem von ihren Ambitionen und ihrem Ziel
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