Der Pate von Bombay
Gaitonde. Zu deiner Unterhaltung.«
»Ja«, sagte ich. »Und jetzt lies mir einen Brief vor.« Das war noch so eine meiner Vergnügungen. Seit zwei oder drei Jahren erhielt Jojo Briefe. Sie kamen in jenen braunen Umschlägen, die in der Nähe von Postämtern und auf Bazaaren neben den ausgehängten Stellenangeboten für den öffentlichen Dienst und den Stapeln von Bewerbungsformularen verkauft wurden.
»Ja, ja«, sagte Jojo. »Augenblick. Am Freitag habe ich einen richtig guten bekommen. Ich habe ihn extra für dich zur Seite gelegt.«
Ich hörte, wie sie in ihrem Regal herumstöberte. Die Briefe kamen aus dem ganzen Land, besonders aber aus dem Norden, mit Absenderadressen wie »Azadnagar, Maithon Farm, Dhanbad« oder »Asabtpura, Moradabad«, »Mangaon, Dist. Raigad« oder »Mallik Tola, Banka, Bihar«. Irgendeine Hindi-Zeitung aus Delhi hatte einen Artikel der Times of India über das Leben der Models abgekupfert, mitsamt Fotos von ein paar Frauen aus kleinen Ortschaften, die nach Bombay gekommen und zu erfolgreichen Models und Schauspielerinnen geworden waren. In diesem Artikel war Jojo als eine der Model-Agentinnen aufgeführt worden, die auch mit Neuen arbeitete. Daraufhin waren die ersten Briefe eingegangen. Sie waren zunächst spärlich, aber regelmäßig gekommen und bald zu einer wahren Flut geworden, als der Artikel kopiert, vervielfältigt und von wiederum anderen Zeitungen geklaut wurde. Die Briefe stammten hauptsächlich von Männern, und Jojo und ich hatten schon öfter darüber spekuliert, warum nicht mehr Frauen schrieben. Jojo meinte, die Mädchen hätten wahrscheinlich Angst davor, eine Antwort nach Hause zu bekommen. »Stell dir vor«, sagte Jojo, »der Vater macht einen Brief von mir auf, in dem ich das Mädchen auffordere, nach Bombay zu kommen.« Die Mädchen würden einfach von zu Hause wegrennen. Manchmal gewännen sie auch einen lokalen Schönheitswettbewerb und könnten Vater oder Mutter überreden, sie nach Bombay zu begleiten. Heutzutage hörten sogar die Eltern in ihren Träumen die Lakhs klingeln, also kamen sie mit.
»Okay, Gaitonde«, sagte Jojo. »Ich habe ihn. Er kommt aus dem Dorf Chhabilapur, Postamt Gobindpur, Distrikt Begu Sarai.«
»Wo ist denn das?«
»Bihar, Baba.«
»Was ist das bloß mit diesen Biharis?«
»Es sind gutaussehende Leute, sie sind intelligent und ehrgeizig und nicht unterzukriegen. Jetzt sei still und hör zu.«
»Ist ja gut, lies vor.«
Sie las Hindi nur langsam und mühevoll, hatte es erst zu sprechen begonnen, als sie nach Bombay kam. Und Lesen hatte sie - mehr schlecht als recht - noch später dazugelernt. Durch das Briefevorlesen war ihr Hindi besser geworden. Früher hatte sie die Briefe ungeöffnet hinter einem Schrank gestapelt und einmal die Woche alles weggeworfen. Doch als sie mir davon erzählte, ließ ich sie einen vorlesen und dann noch einen. Und seither überflog sie die Briefe immer und legte die besten für mich zur Seite. »Dieser«, sagte sie, »fängt an wie üblich: Er schreibt, daß er in der Zeitung von dem Mister-International-Wettbewerb gelesen hat und daß in dem Artikel meine Agentur erwähnt wird. Er will wissen, wie er Zugang zur Welt der Models bekommt.«
»Are, lies vor, Jojo.«
»Sein Hindi ist sehr schwierig, Gaitonde, sehr nördlich und voller Höflichkeitsfloskeln.«
»Lies ihn einfach vor.«
»Okay. Das Schöne an diesem Brief ist, daß der Briefschreiber lauter Listen verfaßt hat. Sprachen: Hindi, Englisch, Magahi 385 , Maithili. Er heißt übrigens Sanjay Kumar.« In ihrer Stimme lag ein belustigtes Gurgeln. »Sanjay Kumar möchte keinen normalen Lebenslauf schicken. Deshalb hat er eine Liste all seiner Lieblingsdinge aufgesetzt. Lieblingsblume: Rose. Lieblingsfilmschauspieler: Anil Kapoor 022 , Salman Khan, Amir Khan 016 . Lieblingsfilmschauspielerinnen: Rani Mukherjee 527 , Kajol, Aishwarya Rai 012 .«
»Warum glaubt er, daß du das wissen mußt?«
»Wer weiß? Hör zu, Gaitonde: Lieblingsfilme: Karan Arjun, Sholay, Dilwalle Dulhaniya Le Jayenhge, Pardes. Lieblingsorte im Ausland: London, Schweiz, Neuseeland.«
»Der Mistkerl hat doch nie einen Fuß aus Chhabilapur rausgesetzt.«
»Er kennt Neuseeland aus Filmen, Gaitonde. Sein Vater hat einen Videorecorder für die ganze Familie gekauft, sie schauen sich jeden Tag Filme an. Lieblingscremes: Fairever, Pond's Cold Cream. Lieblingsparfum: Rexona. Lieblingsseife: Lux, Pear's und Pear's Face Wash. Lieblingsshampoos: Clinic All-Clear und Nyle Herbai
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