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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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fest und schaute zu den Models hoch. Sie waren da, direkt vor mir, in Hazratganj. Aber sie sahen aus, als kämen sie aus einer anderen Welt. Wie Feen. Sie waren groß. Größer als ich oder meine Mutter. Dünn und groß. Zwei von ihnen unterhielten sich auf englisch, während sie an mir vorübergingen, und ich verstand kein Wort. Doch selbst in ihrem Tonfall schwang dieses besondere Gefühl mit, diese Stimmung, die auch von ihren roten Wangen, ihren dunklen Augen ausging. Sie waren Feen. Wenn mir später jemand eine Geschichte über Prinzen und Dschinns und Magie erzählte, habe ich immer die Models vor mir gesehen. Ich habe sie nie vergessen. Abends habe ich meine Mutter dann gefragt, wer sie waren. Sie wußte es nicht. Sie war eine fromme Frau, die immer eine Burka trug, was wußte sie schon von Models? Ich habe auch meinem Vater davon erzählt, aber der hat nur gelacht und meine Mutter gefragt, wovon ich rede, und sie hat mit den Achseln gezuckt. Ein paar schamlose Ausländerinnen mit abgeschnittenen Haaren, sagte sie.
    Es waren gar keine Ausländerinnen gewesen, sondern allesamt Inderinnen, Topmodels aus Bombay. Aber Bombay war für meine Mutter so gut wie Ausland. Am nächsten Tag fanden wir heraus, wer die schönen Frauen gewesen waren. Mein Vater war ein kleiner Mann, er besaß ein kleines Restaurant im Chowk Bazaar und war sehr fromm. Er dankte Allah jeden Tag dafür, daß er mit seinem Restaurant so erfolgreich war - seine Kachori 304 Kababs waren über die Grenzen von Lucknow hinaus berühmt. Aber zugleich war er ein fortschrittlicher Mann. Er bezog nicht nur zwei Urdu-Zeitungen, sondern auch die Times of India. Er selbst konnte kein Englisch lesen, doch er hoffte, daß seine Kinder sich bilden und es in der Welt zu etwas bringen würden. Diese Hoffnung bezog sich vor allem auf seine Söhne, meine älteren Brüder. Aber ich - die Jüngste und damals sein Liebling - blätterte die Zeitschriften und Zeitungen ebenfalls durch und lauschte seinen Diskussionen mit meinen Brüdern. Am nächsten Morgen also lachte mein ältester Bruder Azim, der von uns allen am besten Englisch konnte und sich gerade auf das UP State Services Exam vorbereitete, und sagte: ›Da sind ja Jamilas Ausländerinnen.‹ Und tatsächlich, da waren sie, auf einem Foto auf der dritten Seite wandelten sie über einen langen, erhöhten Laufsteg. Die vorderste erkannte ich, es war eine der beiden, die sich unterhalten hatten. Azim erklärte meinem Vater, das seien Models aus Bombay, die für eine Modenschau in einem Fünf-Sterne-Hotel hergekommen seien, zu der sämtliche reichen Leute von Lucknow sowie der DIG und der Steuereintreiber gegangen waren. Damals hörte ich das Wort Modenschau zum ersten Mal. Ich begriff kaum, was es bedeutete. Ich stellte mir eine Menschenmenge vor, wie auf dem Bürgersteig in Hazratganj, und die wunderschönen Models, die über den Köpfen all dieser Leute hin und her flanierten. Sonst nichts, sie schwebten einfach vorbei. Und all die Leute schauten sie an.
    Ich hielt mich lange daran fest, viele Jahre lang, dort in meiner Welt, die aus meiner Straße, meinem Zuhause und meiner Schule, meinen Eltern und Brüdern und Tanten und Cousins bestand. Jede Nacht habe ich es wieder vor mir gesehen, ich bin eingeschlafen, während die wunderschönen Models aus Bombay auf einem menschenleeren Gehweg an mir vorübergingen, irgendwie waren alle anderen Leute einfach aus Lucknow herausgehoben worden. Ich wollte mehr erfahren, verkniff mir aber instinktiv meine Fragen, ließ niemanden davon wissen. Ich wußte, daß Frauen sich nicht nach solchen Dingen sehnen durften, daß brave Mädchen Suren und Hadithe auswendig zu lernen und still und bescheiden zu sein hatten, nicht nur im Wachzustand, sondern auch im Schlaf. Es reichte, neben meiner Mutter zu sitzen und zu essen, nachdem die Jungs fertig waren, um das zu begreifen. Also hielt ich den Mund und lernte, indem ich zuhörte, lernte, was immer ich aufschnappen konnte. Ich versuchte zusammen mit Azim die Times of India zu lesen, was die übrige Familie äußerst amüsierte. ›Komm‹, sagte Azim jeden Morgen, wenn er die Zeitung aufschlug. Und so erfuhr ich, daß Models in Bombay lebten, daß die meisten englischsprachig dort aufgewachsen waren, daß sie traumhaft viel Geld verdienten und mit der Crème de la crème verkehrten. Doch erst als wir zu Hause einen Farbfernseher und einen Kabelanschluß bekamen, begriff ich wirklich.
    Es war kurz nach meinem elften Geburtstag. In dem

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