Der Pate von Bombay
dem Untergang des Sowjetreichs hatte Shahid Khans Organisation Agenten in die Ukraine geschickt, um in der Druckerei, in der die Banknoten hergestellt worden waren, die Lage zu sondieren. Den Agenten war es gelungen, einen Deal auszuhandeln: Gegen eine stattliche, in harter Währung zu bezahlende Summe würden die Ukrainer ihnen die originalen Druckplatten für die indischen Banknoten überlassen. Das wäre ein echter Triumph gewesen, indisches Falschgeld mit den originalen Druckplatten herzustellen. Aber die Inder hatten Wind von der Sache bekommen - die Ukraine war korrupt bis ins Mark -, ihren Anspruch auf die Druckplatten geltend gemacht und sie an sich genommen. Diesem absoluten Debakel hatte Shahid Khan noch eine Art Sieg und ein Mindestmaß an Würde abgerungen. Er war erst nach vollendeter Tatsache auf den Plan getreten und hatte schnell gehandelt: Die Druckplatten waren weg, das schon, aber das Papier war noch da, in riesigen, nur leicht bewachten Lagerhäusern. Shahid Khan machte ein paar Deals, organisierte die Logistik, ließ einen niederen Angestellten der indischen Botschaft von örtlichen Gangstern gefangennehmen und zwei Tage festhalten. Und während die Inder abgelenkt waren, hat er ihr Banknotenpapier stehlen lassen. Jetzt sind die auf diesem Originalpapier gedruckten Geldscheine in ganz Indien in Umlauf, und Shahid Khan weiß, daß er auf dem besten Wege ist, zum Oberstleutnant befördert zu werden. Das ist natürlich etwas, aber selbst sein persönlicher Triumph kann ihn nicht vollständig von dem Scheitern auf nationaler Ebene befreien.
Er reißt sich aus seiner Tagträumerei hoch, legt die Schere weg und dreht den Wasserhahn auf. Er badet zielstrebig, und während er sich abtrocknet, kann er nicht umhin, zum wiederholten Mal zu denken, daß dieses riesige flauschige Stück Stoff ein absurder Luxus ist. Er kann sich derlei Annehmlichkeiten schon seit einer Weile leisten und gönnt sie seiner Familie durchaus, doch er selbst hat eine härtere Schule genossen. Nachdem er gebetet und gegessen hat, bringt er seine Papiere in Ordnung und zahlt ein paar Rechnungen. Es ist Sonntag, und die Frauen des Hauses - seine Mutter, seine Frau und seine Tochter - sind nach East Ham gefahren, um Verwandte zu besuchen. Er ist allein, und jetzt endlich, vorübergehend all seiner Pflichten entledigt, hat er das Gefühl, sich eine Stunde freinehmen zu dürfen. Er geht ins Schlafzimmer und macht die Tür hinter sich zu. Die Haustür ist abgeschlossen, und er weiß, daß ihn niemand stören wird, doch er fühlt sich gezwungen, sicherzustellen, daß er ungestört bleiben wird. Bisher weiß nur seine Frau, was er sich anschickt zu tun.
Er setzt sich in seinen Lieblingssessel gegenüber dem Fenster. Gutes Licht ist essentiell. Er legt sich ein Kissen auf den Schoß, die Wollknäuel rechts neben sich. Und dann beginnt er zu stricken. Den x-ten Schal. Seine Frau spendet sie, meistens an eine Madrassa 384 oder ein Waisenhaus in der Heimat. Die Nadeln klappern, Shahid Khans Schultern entspannen sich und sinken herab. Er macht das seit zwei Jahren, seit ihm ein Arzt in Karatschi gesagt hat, er müsse sich unbedingt entspannen, sonst würden ihn seine Geschwüre noch umbringen. »Lernen Sie, mal richtig Urlaub zu machen«, hatte der Arzt gesagt. »Legen Sie sich ein Hobby zu.« Zuerst spielte Shahid Khan Squash. Er hatte das schon immer lernen wollen, und es schien ihm ein gutes Fitneßtraining zu sein. Doch er stellte fest, daß er unbedingt gewinnen wollte. Er nahm Trainerstunden und begann Bücher über die Technik zu lesen. Als er anfing, von Rückspielen zu träumen, gab er das Squashspielen auf. Er wurde in die Ukraine geschickt, und dort begann er mit Schach. Da er sich scheute, gegen einen anderen Menschen zu spielen, investierte er in einen Handheld-Schachcomputer. Die technischen Raffinessen des Geräts begeisterten ihn - wie es aufklappte und mit leisem Klicken zu einem richtigen Schachbrett wurde, die Vertiefungen für die Figuren, die kleinen roten Lichter, mit denen das Gerät anzeigte, welche Figur es wohin ziehen wollte. Während er lernte, das Gerät zu benutzen, ging es ihm gesundheitlich besser. Doch dann steigerte er den Schwierigkeitsgrad, und die Schmerzen flammten wieder auf. Aber die Kriegsmetaphorik dieses Spiels war ohnehin zu offensichtlich, die Läufer und Bauern und das schwarzweiße Schlachtfeld erinnerten ihn zu sehr an das wahre Leben. Er schenkte den Schachcomupter einem Freund und litt eine
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