Der Pate von Bombay
aufzupassen. So eine Krankheit kommt schnell und erfaßt alles. Aber heute sehen ihre Pflanzen gesund aus. Sie erstrecken sich wie ein buntes Flammenmeer über die Terrasse, und die Kletterpflanzen ranken sich den stockwerkhohen Wassertank hinauf. Es ist ein großes Haus, das zu kaufen oder zu bauen Adi und sie sich heute niemals leisten könnten. Doch in den Sechzigern, als Vasant Vihar noch eine Wildnis jenseits der Wasserscheide war, haben Adis Eltern dort zwei Grundstücke gekauft. Das eine haben sie zwanzig Jahre später wieder verkauft, und auf dem anderen haben sie ein Haus gebaut, so daß Adi, Anaita und ihre Söhne nun in dieser Kolonie des Überflusses leben. Sie können sich also glücklich schätzen, aber die Preise in dieser Wohngegend sind einfach absurd. Die Jungs haben keine Ahnung, wie teuer es ist, das Essen, das sie mögen, auf den Tisch zu bringen, all das Fleisch, das gute Brot, das Gemüse. Sie sind in dem Alter, wo es sehr wichtig ist, mit seinen Freunden gleichzuziehen, und ihre Freunde - viele davon Klassenkameraden an der Modern School - sind die Söhne von Industriellen und Geschäftsleuten. Anaita denkt an ihre lang zurückliegende Jugend mit zehn Rupien Taschengeld pro Woche und sorgt sich wieder einmal um ihre Söhne. Die Leute haben heutzutage einfach zuviel Geld und werfen damit um sich, als bedeute es nichts. Ihre Kinder tragen Sonnenbrillen, die Tausende von Rupien wert sind, und Geburtstagsfeiern kosten mehrere Lakhs. Viele ihrer Nachbarn im E-Block haben drei oder vier Autos in der Einfahrt stehen und manchmal sogar noch ein weiteres vor dem Haus. Daher sind die Jungs manchmal sauer auf Anaita und Adi und halten sie für geizig.
Anaita hat ihre Inspektion beendet, geht in die Mitte der Terrasse und schaut, nicht weit von der Treppe, in den Innenhof hinunter. Adis Vater hatte darauf bestanden, in der Mitte des Hauses einen kleinen unüberdachten Platz frei zu lassen, und kein Gegenargument seiner Frau konnte ihn auch nur ansatzweise überzeugen. »Ich brauche Licht«, hatte der alte Mann gesagt, und als das Haus fertig war, hatte er einen Armsessel in die Galerie neben seinem kostbaren Innenhof gestellt und jeden Morgen dort Zeitung gelesen, im Juni wie im kühlsten Januar. Anaita hatte ihn dafür richtig gemocht. Jetzt sieht sie Adi mit einem Tablett aus der Küche kommen. Er wird jeden Moment nach ihr rufen und dann die Jungs aufwecken. Sie wird hinuntergehen und den Chai trinken, den er gekocht hat, mit ihren Söhnen scherzen und ein paar Eier essen. Adi ist ein guter Mann. Sie haben ihre Auseinandersetzungen gehabt, einige davon so heftig, daß sie sich beide noch wochenlang zerschlagen fühlten, doch sie haben durchgehalten und sind zusammengeblieben. Adi sagt manchmal, sie hätten einander die rauhen Kanten abgeschliffen. Er bringt sie oft zum Lachen, beteiligt sich an dem mühsamen Alltagsgeschäft, die Kinder großzuziehen, und sie sind zufrieden. Sie sollte jetzt hinuntergehen, denn sie fährt gern möglichst früh los, bevor der Verkehr auf den Hauptstraßen ins Stocken gerät, aber sie denkt immer noch an diesen K. D. Yadav.
Warum? Sie ist sich nicht sicher. Sie mochte ihn, aber sie hat auch schon andere Patienten gemocht und verloren. Der Tod ist nichts Neues für sie, sie hat jeden Tag damit zu tun, ist vertraut mit seinem plötzlichen Kommen, den Geräuschen, mit der Reglosigkeit und dem Geruch danach. Sie weiß, daß der Tod auch sie und Adi holen wird, und sie kann sich sogar - fast ungerührt - den Tod ihrer Söhne vorstellen. Warum also bleibt ihr K. D. Yadav im Sinn? Sie streicht über die Blätter eines Königsbasilikum, atmet tief ein und spürt die Kälte schmerzhaft in den Nasenlöchern. Wie schrecklich es doch sein muß, nicht mehr zwischen kalt und warm, innen und außen unterscheiden zu können. Zum Schluß, als K. D. Yadav sich nicht mehr regte, hatte er weder glücklich noch traurig ausgesehen. Hatte er noch erkannt, ob es Tag oder Nacht war, ob er lebte oder tot war? Anaita hatte seiner jungen Freundin oder Kollegin oder was immer sie war, dieser Anjali Mathur, gesagt: »Machen Sie sich keine Gedanken. Er hat keine Schmerzen, er leidet nicht.« Aber jetzt denkt sie darüber nach, wie es sein muß, nicht zu leiden, in einer Art endlosen Leere zu leben, und sie erschauert. Der Arme, denkt sie. Er hat so gern gelesen, und irgendwann müssen Buchstaben und Seite verschmolzen und zu etwas geworden sein, das nichts mehr war. Der arme, arme
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