Der Pate von Bombay
begleitet. Er erinnert sich kaum an die Zeit vor dieser ersten Reise, aber er erinnert sich noch an die Dächer von Lahore, die in der Morgensonne leuchteten.
Rehmat Sani schüttelt seine nostalgischen Gefühle ab und macht sich bereit, in den Nullah zu steigen. Es ist wieder dunkel, und der von der Leuchtrakete in seine Augen eingebrannte Fleck ist verschwunden. Er braucht den Kopf nicht nach etwaigen Bedrohungen zu heben. Die laute Stille der Nacht, das gleichmäßige Sirren der Insekten, die Entspanntheit seines Körpers sagen ihm genug. An der Brust spürt er das Plastikpäckchen, das er sich unter sein Banian geschoben hat. Der pakistanische Captain hat mit druckfrischen indischen Banknoten für seinen Whisky bezahlt, was Rehmat Sani entgegenkommt. Zu Hause wird er das Geld aus der Plastikumhüllung nehmen und seiner älteren Frau geben, damit sie es auf die Bank bringt und sein Sparbuch aktualisieren läßt. Er kann die Einträge in seinem Sparbuch nicht lesen, doch er schaut sie sich immer gern an, wenn seine Frau von ihrem halbtägigen Ausflug zur Bank zurückkehrt. Das Gekritzel gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit. Jetzt fragt er sich, wo die Pakistanis soviel neues indisches Geld herkriegen. Es ist seltsam, daß die frisch gedruckten Scheine erst in die eine Richtung über die Grenze gehen und dann mit ihm wieder in die andere zurückkommen. Aber das macht sein Leben aus: diese endlos lange Linie auf dem Boden in der einen oder anderen Richtung zu überqueren, über den Zaun oder um ihn herum. Er denkt nicht groß darüber nach, warum sich diese Linie über die Felder zieht, es gibt sie nun einmal, und er lebt davon. Er gähnt und dreht sich um. Es ist an der Zeit. Er wird zwei Stunden brauchen, um den Zaun zu erreichen, und weitere zwei Stunden, um auf der anderen Seite in Sicherheit zu gelangen. Dann wird er aufstehen, sich den Schlamm abklopfen und nach Hause gehen.
IV
D r. Anaita Kharas hockt auf den Fersen und gibt etwas Vermiculit in einen Topf. Die Erde, den Sand und das Torfmoos hat sie bereits in wohlabgemessenen Mengen hineingegeben, und nun läßt sie die Mischung zwischen ihren Fingern hindurchrieseln und genießt das angenehm rauhe Gefühl. Sie könnte eine Pflanzkelle gebrauchen - ihre Söhne behaupten, sie hätte eher die Hände einer Arbeiterin als einer Ärztin -, aber es beruhigt sie, das Gewicht der Erde in ihren Händen zu spüren, bevor sie morgens zur Arbeit geht. Sie kommt jeden Morgen hierher, auf die Dachterrasse ihres Hauses in Vasant Vihar, und arbeitet in ihrem Garten. Sie zieht Feigenbäume und Zylinderputzer, Bougainvilleen und Kräuter, Michelia champaca und Jasmin. Sie spürt die beißende Dezemberkälte in den Fingerspitzen, aber selbst das tut gut. Sie hat festgestellt, daß sie diese Zeit für sich braucht und daß es eine gute Vorbereitung für ihren Tag voller Patienten und Krankheiten ist, Dill in einem Topf auszusäen. Während sie ihre Pflanzaktion abschließt, denkt sie an K. D. Yadav, der vor drei Tagen gestorben ist. Er war ein guter Patient, schon bevor seine Tumoren ihn stumm und reglos machten. Er ertrug den Verlust seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten mit Würde. Sie hat ihn nur einmal weinen sehen, da stand er am Fenster, und selbst damals nahm er ihre üblichen ärztlichen Ermahnungen mit einem Lächeln entgegen. Er war viel älter als sie und sehr altmodisch mit seinen Namastes und seiner Angewohnheit, aufzustehen, wenn sie den Raum betrat, oder es zumindest zu versuchen, aber er hörte ihr immer aufmerksam zu. Ein- oder zweimal ertappte sie sich dabei, wie sie ihm Dinge erzählte, die nichts mit Medizin, dafür aber um so mehr mit ihrem eigenen Leben zu tun hatten. Er hatte so eine Art, Fragen zu stellen, nachzubohren, ohne daß es einem so vorkam, und man gab ihm Auskunft, ohne es zu bemerken. Tage später sagte er dann: »Ja, ich muß in Kalkutta gewesen sein, als Ihr Vater dort stationiert war«, und man erinnerte sich, ihm erzählt zu haben, daß man mit Elf für ein Jahr in Kalkutta gelebt hatte. Er war ein cleverer Mann, dieser K. D. Yadav, wenn man bedachte, daß er so viele gleichförmige Jahrzehnte lang im Ministerium für Bildung und Familie gearbeitet hatte.
Anaita steht auf, streckt die Beine. Sie umrundet die Dachterrasse einmal und inspiziert ihre Pflanzen. Vor zwei Monaten hat sie einen massiven Mehltaubefall bekämpfen müssen, dem zwei Flammenbäume zum Opfer gefallen sind, und daraufhin beschlossen, künftig besser
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