Der Pate von Bombay
jeder Familie einen entfernten Cousin, den es erwischt hat. Wenn nicht bei diesen Unruhen, dann bei irgendwelchen anderen.«
Das stimmte. Sartaj kannte auch aus seiner eigenen Familie Geschichten von Verwandten, die mitten in der Nacht von zu Hause hatten fliehen müssen.
»Zu Tisch, ihr beiden!« rief Rehana von drinnen. Sie hatte in der Küche noch Rotis gemacht und hielt die vertraute Plastikschüssel mit dem roten Rosenmuster und dem luftdicht schließenden Deckel in den Händen. Das Khima hatte sie zusammen mit ihrem Dienstmädchen für alles vermutlich schon am Spätnachmittag zubereitet. Die beiden konnten Segen oder Fluch produzieren, es war jedesmal ein Lotteriespiel, und als Sartaj seinen Stuhl an den Tisch rückte, war er froh um den Whisky, den er getrunken hatte. Imtiaz und Farah nahmen schubsend und drängelnd Platz. Sartaj hatte sie schon als Kleinkinder gekannt, und jetzt, da sie fast erwachsen waren, wirkte die Wohnung kleiner als früher.
Imtiaz reichte ihm eine Schale. »Hast du dir mal die CIA-Website angeschaut, Onkel?« fragte er.
»CIA - die Amerikaner?«
»Ja, die haben eine Site, da kann man in ihre Geheimdokumente reinschauen.«
Farah füllte Raita 511 in eine Schale. »Wenn die einen das lesen lassen, dann ist es doch nicht geheim, du Idiot«, sagte sie. »Du bist bestimmt wieder stundenlang auf irgendwelchen bescheuerten Internetseiten rumgesurft und hast mit Mädchen gechattet.«
»Halt die Klappe«, sagte Imtiaz. »Wer redet denn mit dir?«
Majid lächelte. »Aha, ich gebe also Tausende und Abertausende von Rupien aus, damit mein Sohn sich mit Mädchen in Amerika unterhalten kann?«
»In Europa«, sagte Farah. »Er hat eine Freundin in Belgien und eine in Frankreich.«
»Du hast Freundinnen?« fragte Sartaj. »Wie alt bist du eigentlich?«
»Fünfzehn.«
»Vierzehn«, sagte Farah. Sie lächelte. »Denen hat er bestimmt gesagt, er ist achtzehn.«
»Wenigstens wirke ich wie achtzehn, im Gegensatz zu anderen, die sich benehmen wie elf.«
Farah faßte unter den Tisch, und Imtiaz zuckte zusammen. Er hob den Arm hoch. »Die Fingernägel einer Frau«, sagte er, »können tödlich sein.« Er schien hochzufrieden mit sich.
»Schluß jetzt, ihr beiden«, wies ihre Mutter sie zurecht. »Laßt Onkel Sartaj essen.«
Sartaj aß und war froh, daß ihnen an diesem Abend eine kulinarische Katastrophe erspart blieb. »Neue Frisur?« fragte er Farah.
»Ja! Du bist der einzige Mann auf der ganzen Welt, der so was merkt. Mein lieber Papa ist drei Tage nicht draufgekommen, was sich an mir verändert hat.«
»Sieht gut aus«, sagte Sartaj. Farah war etwas pummelig, aber hübsch, und Sartaj fragte sich, ob sie ihrerseits einen Freund in Belgien oder sogar in Bandra hatte. Er behielt die Frage jedoch für sich, denn Majid war zwar sehr liberal, aber bei seiner Tochter stieß seine Toleranz zuweilen an ihre Grenzen. Zwar kaufte er seinen Kindern, seinem Sohn, von seinem schwerverdienten Geld einen Computer, doch sein martialischer Kavallerieschnauzbart war nicht etwa nur schöner Schein. Ein Junge, der Farahs neuem Look verfiel, mußte geradezu tollkühn sein, um ihre acht Stockwerke hohe Burgmauer zu erklimmen. Farah strahlte, und Sartaj war sich sicher, daß es Jungen gab, deren Furcht sie mit diesem Strahlen gebannt hatte. Vor vielen Jahren hatte er selbst Burgmauern erklommen und um eines hübschen Gesichts willen grimmigen Vätern die Stirn geboten.
Nach dem Essen brachte Rehana Sartaj eine Tasse Tee und nahm neben ihm auf dem Sofa Platz. Sie hatte die gleichen breiten Wangenknochen wie ihre Kinder und war von einer gemütlichen Fülligkeit. Ein goldgerahmtes Bild an der Wand zeigte sie als schlanke Braut mit Henna-Schmuck und züchtig gesenktem Kopf, doch auch hier waren ihre strahlenden Augen nicht zu übersehen. »Wie steht's, Sartaj, haben Sie inzwischen eine Freundin?«
»Ja«, antwortete Sartaj. »Ja.«
»Wer ist es? Sagen Sie schon.«
»Ein Mädchen.«
»Na, was denn sonst? Eine Ananas vielleicht? Für einen Polizisten sind Sie wirklich ein miserabler Lügner, Sartaj.«
»Ach, das ist doch ein langweiliges Thema, Bhabhi.«
»Mein Sohn ist da anderer Meinung.« Imtiaz war mit seinem Vater und seiner Schwester zu dem Laden an der Ecke gegangen, um Eiscreme zu holen. »Sie sind doch noch jung, Sartaj. Wollen Sie denn so durchs Leben gehen? Sie brauchen eine Familie.«
»Sie reden genau wie meine Mutter.«
»Weil wir beide recht haben. Wir möchten beide, daß Sie glücklich
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