Der Pate von Bombay
oder aufgrund ihres Alters stellte sie etwas Besonderes dar; sie war weder Fisch noch Fleisch. Nikki dagegen wurde von ihren Brüdern Iqbal-virji 663 und Alok-virji verhätschelt. Die beiden waren achtzehn und siebzehn, jünger als Navneet-bhenji, aber mit ihrer ungeschlachten Männlichkeit und ihrer Kricketleidenschaft weiter von Nikki entfernt. Ihr Vater sah sich gern Nikkis Schulhefte an, die sie mit braunem Papier tadellos einband und mit ihrem Namen in grüner Tinte beschriftete, die Anfangsbuchstaben von Prabhjot und Kaur kunstvoll verschnörkelt. Ihre Punjabi- und Urdulehrer staunten, wie schön sie beide Schriften schrieb, und setzten in Hinblick auf den jährlichen Aufsatzwettbewerb unter der Schirmherrschaft von Sir Syed Atalullah Khan große Hoffnungen auf sie. »Mein Haus ist neu«, schrieb sie in schwungvollen Lettern, ohne den kleinsten Fehler oder Klecks, denn wenn ihr auch nur ein Aleph mißlang, riß sie die ganze Seite aus dem Heft. Sie stand allenthalben in dem Ruf, ein braves Kind zu sein, ernsthaft und folgsam, und in dem neuen Haus half sie gern in der Küche.
»Bist du fertig, Nikki?« sang Mata-ji aus der Küche.
»Ich komme, Mata-ji!« Prabhjot Kaur sprang auf, um Wasser zu pumpen, und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf den Schwengel. Im Sonnenlicht glitzernd und tanzend, sprudelte das Wasser hervor. In der Küche warf Mata-ji die Paraunthas von einer Hand in die andere, eine schnelle kleine Melodie, und beförderte sie dann mit einem letzten Schwung aus dem Handgelenk in die heiße gußeiserne Pfanne. Mata-ji tupfte sich mit dem Zipfel ihres Dupatta die Schweißperlen von den Wangen, und Prabhjot Kaur sah gespannt in ihr rotes rundes Gesicht mit der Stupsnase, derentwegen sie von allen geneckt wurde.
»Bring das rein«, sagte Mata-ji und legte den fünften vollkommenen, glänzenden Parauntha auf den Stapel der anderen. »Und dann setz dich auch hin.« Prabhjot Kaur aß stets als vorletzte. Ihre beiden Brüder vertilgten mit gewaltigem Appetit ein ganzes Dutzend Paraunthas mit pfundweise Butter. Mani saß, ein Knie unters Kinn hochgezogen, neben ihnen, stocherte in einem Berg Okra und formte ihn zu einem Kreis. Sie würdigte Prabhjot Kaur keines nicht einmal eines Blickes, sondern hörte Iqbal-virji und Alok-virji zu, die sich über Kricket unterhielten. Prabhjot Kaur hockte sich auf die Chatai hin und aß still und konzentriert. Es war Sonntagmorgen, und ihr Vater war losgegangen, um eine letzte Ladung Ziegel zu besorgen. Sie wohnten seit fast einem Jahr in dem neuen Haus, aber der rückwärtige Teil war noch immer nicht fertig. Ein Vorratsraum und ein separates kleines Dienstbotenhaus mit Veranda sollten hinzukommen. Man konnte meinen, das Haus wäre in alle Ewigkeit im Bau. Solange Prabhjot Kaur zurückdenken konnte, hatte es dieses Haus in Adampur gegeben. Ihr Vater war abends nach der Arbeit dorthin verschwunden, und an den Wochenenden hatten ihre Brüder die Bauarbeiten überwacht. Es war ein Zuhause, das niemals näherzurücken schien. Der Umzug hatte drei Tage gedauert. Die erste Nacht hatten sie alle auf neuen Charpais 110 im Hof verbracht, und fast bis Tagesanbruch hatte keiner von ihnen ein Auge zugetan. Am nächsten Morgen hatte Prabhjot Kaur unter ihrer warmen weißen Decke aus wunderbaren Träumen heraus ihre Mutter vom Dach herab lachen hören. Es klang wohlig und frei und so ungewohnt sorglos, daß Prabhjot Kaur sich noch immer daran erinnerte. Und es war in dem neuen Haus geblieben, dieses Lachen, hatte die Flure erhellt und sich mit dem frischen Putzgeruch vermischt. Leise ächzend, wie immer, wenn sie die Knie abwinkelte, ließ sich Mata-ji nun neben Prabhjot Kaur nieder. Sie war müde von der morgendlichen Arbeit, aber sie strahlte auch etwas anderes aus, eine satte Zufriedenheit, die in den vier Jahren, in denen die Familie zwei Zimmer hinten in Narinder Dhanoas Haus bewohnt hatte, nicht dagewesen war. Sie aß tief über ihren Teller gebeugt und schmatzte bei jedem Bissen, bis Mani sich plötzlich zu ihrer vollen Höhe aufrichtete und in die Küche hinausstolzierte.
»Und, Sethani-ji 573 «, sagte Alok-virji und legte seiner Mutter die Hand auf die Schulter. »Wann fängt das Dienstmädchen bei uns an?«
»Ach, das schaffe ich schon allein«, antwortete Mata-ji. »Was sollte ich denn sonst mit meiner ganzen Zeit anfangen?«
Alok-virji hängte sich lachend an die Schultern seiner Mutter.
»Wir sagen ihr einfach, sie soll ab morgen kommen«, sagte Iqbal-virji,
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