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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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entfernt vom Seeufer, aber so nahe an dem Punkt, wo der Kauwagaheel River vom See landeinwärts fließt, dass der Sumpfgestank die verrottenden Gipswände durchdrang.
    Jeremy erfüllte seine Aufgabe, schrieb einen Bericht. Einen Bericht schrieb auch ein zu Tode erschrockener Praktikant von der Sozialfürsorge, aber es stellte sich heraus, dass sich die Eltern des Jungen trotz ihrer Charakterfehler und ihrer schlechten Angewohnheiten ganz gut um den Jungen kümmerten, der sich eine virusbedingte Leberinfektion mit anschließender Verstopfung zugezogen hatte, die ihm die Nährstoffe entzog und sein Wachstum verzögerte.
    Chirurgie und intravenöse Antibiotika wirkten Wunder. Die soziale Beratung der Eltern erwies sich als deutlich weniger wundervoll, und drei Wochen nach der letzten chirurgischen Nachuntersuchung verließ die Familie die Stadt.
    Iron Mount. Direkt im Osten der Shallows gelegen, ließ dieser Stadtteil die Shallows wie eine ländliche Idylle aussehen.
    Er legte die Zeitung hin, zwang sich, den Kaffee auszutrinken, und dachte über Tyrene Mazursky nach, die jemand abgeschlachtet hatte.
    Die Wunden.
    Fünf Waisen.
    Er fragte sich, wie eine Schwarze an einen polnischen Namen gekommen war, fühlte, wie ihn eine unaufhaltsame Traurigkeit angesichts der Geheimnisse von Tyrene Mazurskys Leben ergriff.
    All die Geheimnisse Jocelyns, die er niemals aufdecken würde. Der Gedanke an sie – die Unwiderruflichkeit ihres Verschwunden-Seins. Der Tag war kaum angebrochen, aber für ihn war er bereits verdorben.
    Als er zu seinem Wagen ging, stand seine Nachbarin im übernächsten Haus – die Rumänin mit dem Opferblick, die selten ihr Haus verließ und Jeremys wegen der Hecken nicht einsehen konnte – am Vorderfenster und beobachtete ihn.
    War Doresh bei ihr gewesen, um Fragen zu stellen?
    Mrs. Bekanescu war eine der wenigen Hausbesitzerinnen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Als er ihr zuwinkte, schlossen sich ihre Vorhänge abrupt.
    Er empfand eine perverse Genugtuung bei dem Gedanken, dass er in der Lage war, jemanden so früh am Tag aus der Fassung zu bringen, und er fuhr schneller als üblich, ließ fröhliche Musik laufen. Als er an seinem Schreibtisch ankam, zog er sein Jackett aus, brachte ein wenig Ordnung in seine Unterlagen, fuhr seinen Computer hoch und verbrachte den Vormittag damit, auf Knöpfe zu drücken, Datentabellen zu überprüfen und schöne Schaubilder für sein Buch zu entwerfen. Er versuchte sich an der Einleitung, aber sein Verstand klemmte, und die Wörter zerfielen ihm unter der Hand. Er wechselte das Thema und begann das Kapitel zu umreißen, das er schreiben musste:
Raum/Zeit-Desorientierung als Folge gnotobiotischer Isolation in der Pädiatrie
.
    Die einzigen Analogien in der Literatur waren Untersuchungen von Wissenschaftlern, die in der Antarktis oder einem ähnlich gottverlassenen Ort gestrandet waren.
    Jeremys Verstand wanderte von bodenlosen Gletscherspalten über blaues Eis, das den töten konnte, der es küsste, bis zu dem abgedroschenen Horror des endlosen Falls, während auf einer Million Eisviolinen eine Tundra-Sinfonie gestrichen wurde. Ein hartes, selbstbewusstes Klopfen an der Tür riss ihn aus seinem Tagtraum, und Arthur Chess trat freudestrahlend ein.

8
    Der Pathologe machte es sich in einem unbequemen Stuhl bequem. »Haben Sie noch über meine Frage nachgedacht?«
    »Der Ursprung des Bösen«, sagte Jeremy.
    Arthur drehte eine Handfläche nach oben. »Böse ist ein … gewichtiges Wort. Theologisch vorbelastet. Ich glaube, wir hatten uns auf ›sehr schlimmes Verhalten‹ geeinigt.«
    Wir
. »Nein, ich habe nicht darüber nachgedacht. Wie ich erwähnte, gibt es eine Datenbank – dürftig, aber suggestiv. Falls Sie wirklich interessiert sind.«
    »Das bin ich, Jeremy.«
    »Ich besorge Ihnen ein paar Literaturhinweise. Aber die Schlussfolgerungen sind vielleicht unerfreulich.«
    »Für wen?«
    »Für einen Optimisten«, erwiderte Jeremy. »Einen Humanisten.« Er wartete ab, um festzustellen, ob Arthur sich einer der beiden Kategorien zuordnen würde.
    Der Pathologe strich sich über den Bart und sagte nichts.
    »Es läuft darauf hinaus, Arthur, dass gewisse Menschen mit einem fest verdrahteten Hang zur Impulsivität geboren zu sein scheinen. Von denen wenden sich ein paar der Gewalt zu. Hauptsächlich Männer, also könnte Testosteron eine Rolle spielen. Aber da sind nicht nur Hormone im Spiel. Die signifikante Variable scheint niedrige Erregbarkeit zu sein. Ein

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