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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Ruhepuls, der niedriger ist als normal. Ein kühles Nervensystem.«
    »Außergewöhnliche Gelassenheit«, sagte Arthur, als hätte er es schon mal gehört.
    »Sie kennen die Forschung?«
    Arthur schüttelte den Kopf. »Was Sie sagen, ergibt jedenfalls perfekten Sinn. Wer keine Furcht kennt, kennt auch kein Gewissen.«
    »Das ist eine Theorie«, sagte Jeremy. »Die Furcht ist eine großartige Lehrmeisterin, und wer nicht von ihr lernt, verpasst in sozialer Hinsicht einige wertvolle Lektionen. Aber es gibt noch einen anderen Erklärungsversuch: Adrenalinsucht. Ein kongenital unterstimuliertes zentrales Nervensystem führt zu einem Bedürfnis für zunehmend stärkere Kicks. Der alltagssprachliche Begriff lautet ›Erregungsjunkies‹.«
    »Das habe ich bei Scharfschützen in der Army gesehen«, pflichtete ihm Arthur bei. »Burschen, die für den Nervenkitzel lebten und eine Herzfrequenz aufwiesen, die so langsam war, dass man dachte, das Stethoskop funktioniere nicht richtig. Ich kannte einen Kerl, der stundenlang still sitzen konnte, eine regelrechte Statue. Würden Sie sagen, dass Militärdienst eine Form sublimierter Kriminalität ist?«
    Jeremy erinnerte sich an Arthurs eigene Dienstzeit beim Militär. Der alte Mann hatte Gefallen daran gefunden. »Die Suche nach dem Nervenkitzel an sich ist nicht das Problem. Bergsteiger und Fallschirmspringer sind alle auf das Adrenalin-High aus, aber die meisten von ihnen begehen keine Verbrechen. Es ist die Kombination aus Risikofreude und Grausamkeit, die zu ihrem extrem schlimmen Verhalten führt. Und das ist der Punkt, wo das Milieu hineinspielt: Nehmen Sie ein Kind mit den biologischen Kennzeichen, setzen Sie es Missbrauch und Vernachlässigung aus, und Sie schaffen wahrscheinlich ein … Problem.«
    Arthur lächelte wieder. »Ein Ungeheuer? Wollten Sie das sagen?«
    »Ungeheuer«, erwiderte Jeremy, »gibt es in allen möglichen Formen.« Er stand auf. »Ich besorge Ihnen die Literaturhinweise und schicke sie bis morgen vorbei.«
    Eine unhöfliche Geste, aber Arthur ließ sich nicht entmutigen. Er sprang mit der Energie eines viel jüngeren Mannes auf die Füße, wobei ihm ein Westenknopf absprang. Die gleichen blassrosa Flecken tüpfelten die linke Manschette seines Laborkittels. Identische Farbe, verschiedene Flecken. »Noch eine Frage, wenn Sie gestatten?«
    »Und die wäre?«
    »Missbrauch, Vernachlässigung – Ihre Annahme, dass diese Faktoren zum Milieu gehören. Könnte es nicht sein, dass das, was Sie als Funktionsstörung innerhalb der Familie bezeichnen, ebenfalls erblich ist? Gewalttätige Eltern geben ihre Schwächen an ihre Kinder weiter?«
    »Zurück zur ›Bad-seed‹-Theorie«, sagte Jeremy.
    »Ein weiterer theologisch belasteter Begriff. Und, wie Sie bereits sagten, entmutigend. Aber stehen die Daten im Widerspruch zu dieser Ansicht?«
    »Die Daten sind zu schwammig, um irgendwas zu beweisen, Arthur. Sie zeigen lediglich in eine gewisse Richtung.«
    »Ich verstehe«, sagte Arthur. »Also halten Sie es für undenkbar, dass Gewalttätigkeit im Ganzen – oder auch nur zum größten Teil – in der Nukleinsäure weitergegeben wird.«
    »Die Sünden der Väter«, sagte Jeremy. »Ihr Dschungelkäfer, der seinen parasitären Nachwuchs injiziert.«
    Nichts ist bei Ihnen zufällig, nicht wahr, Dr. Chess?
    Arthur lachte still in sich hinein und ging zur Tür. »Nun denn, das war sehr erhellend. Vielen Dank für Ihre Geduld, und falls ich mich irgendwie revanchieren kann, lassen Sie es mich bitte wissen.«
    Er ging hinaus, und Jeremy blieb stehen und fragte sich, ob die Abschiedsworte des alten Mannes nur eine Höflichkeitsfloskel waren oder ob er wirklich erwartete, dass Jeremy mit einer Frage bei ihm vorbeischaute.
    Was könnte er wohl je von einem Pathologen wissen wollen?
    Vor seinem geistigen Auge tauchte Jocelyns Gesicht auf. Was unter ihrem Gesicht lag. Wunden, die er nie gesehen, sich aber vorgestellt hatte. Ein Zerreißen von Fleisch, das ihn mit seiner schrecklichen Doppeldeutigkeit verfolgte.
    Und jetzt Tyrene Mazursky.
    Es gab keinerlei Gemeinsamkeit zwischen einer Nutte mittleren Alters und der süßen Jocelyn – bis auf die Wunden.
    Genug Gemeinsamkeit, um Doresh wieder auf seine Spur zu setzen.
    Sein Herz hämmerte, während er sich selbstquälerisch mit Horrorvisionen auseinander setzte. Für Arthur wäre das alles gewohntes Terrain, er würde es auf Zellbiologie und Organgewichte und chemische Verbindungen reduzieren.
    Arthur würde mit dem Stoff

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