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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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grausigster Albträume genauso umgehen, wie er sich eloquent jeden Dienstagmorgen über Karzinome und Sarkome ausließ: auf onkelhafte Art, mit einem ungezwungenen Lächeln, voller Gelassenheit – wie wohl
sein
Ruhepuls aussah?
    Die Fragen, die er dem alten Mann stellen wollte, blieben ihm in der Kehle stecken.
    Reden wir über diese Dinge, weil Sie wissen, was ich durchgemacht habe? Ist dies nur morbide Neugier, oder verbinden Sie damit eine Absicht?
    Warum war er nicht mit der Sprache rausgerückt?
    Was wollen Sie von mir?

9
    Als sein Herz wieder langsamer schlug, besuchte Jeremy die Stationen und tröstete seine Patienten. Er musste angemessen funktioniert haben, weil Augen zu strahlen begannen, manche Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, Hände nach seinen Fingern griffen und ein Mädchen im Teenager-Alter harmlos mit ihm flirtete. Als er wieder allein war und seine Notizen eintrug, blieb der Eindruck – das Gefühl – jedes einzelnen Patienten haften. Als trüge er sie mit sich herum wie eine Känguru-Mama.
    Das Fleisch der Leidenden fühlte sich nicht anders an als das aller Übrigen. Erst im Endstadium tat es das. Sterbende Patienten reagierten unterschiedlich. Manche wurden in letzter Minute geschwätzig und erzählten unpassende Witze. Manche ergingen sich in endlosen Reminiszenzen oder offerierten den Gefolgsleuten, die ihr Bett umringten, fromme Segenssprüche. Andere schwanden einfach dahin. Aber sie hatten etwas gemeinsam – etwas, das Jeremy noch identifizieren musste. Alle, die lange genug auf den Stationen arbeiteten, konnten sagen, wann der Tod unmittelbar bevorstand.
    Jeremy hatte nie etwas anderes empfunden als eine schreckliche Müdigkeit, wenn ihn ein Patient verließ.
    Er versuchte sich jemanden vorzustellen, für den der Tod eines anderen einen Nervenkitzel bedeutete. Allein bei dem Gedanken daran sanken seine Schultern herab.
    Als er eine Kaffeepause im Speisesaal der Ärzte einlegte, bemerkte er Angela Rios, die allein einen Joghurt aß, ging zu ihr und plauderte mit ihr, bevor er sie zum Abendessen einlud.
    Er war erstaunt über die gelassene Stimme, die aus seinem Mund kam. Fühlte, wie ein Lächeln seine Lippen umspielte, als ob sein Mund von einem Bauchredner manipuliert würde, während er seinen
Annäherungsversuch
machte.
    Er hatte keinen besonderen Grund, sie zu fragen, abgesehen von ihrer Schönheit, ihrer Intelligenz, ihrem Charme und der Tatsache, dass sie offensichtlich interessiert war.
    »Tut mir Leid«, sagte sie, »ich habe Bereitschaft.«
    »Wie schade«, erwiderte Jeremy. Konnte er ihre Signale derart falsch verstanden haben?
    Als er sich abwandte, um zu gehen, sagte sie: »Morgen hab ich frei. Passt es Ihnen da?«
    »Da muss ich in meinem Kalender nachsehen.« Jeremy blätterte pantomimisch Seiten um. Der alte, sich selbst herabwürdigende Witz. Angela lachte unangestrengt.
    Zauberhafte Frau. Wenn ich interessiert wäre …
    »Morgen also«, sagte er. »Soll ich Sie hier abholen?«
    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, erwiderte Angela, »könnte ich ein wenig Zeit gebrauchen, um nach Hause zu fahren und mich frisch zu machen. Ich hab um sieben frei, sagen wir gegen acht?« Sie zog ihr Spiralnotizbuch aus der Tasche, kritzelte etwas hinein, riss die Seite heraus und gab sie Jeremy.
    West Broadhurst Drive in Mercy Heights.
    Wahrscheinlich eins der alten Schindelhäuser im Kolonialstil, das in ein Apartmenthaus umgebaut worden war. Jeremys trauriger kleiner Bungalow lag im Stadtbezirk Lady Jane, ein kurzer Spaziergang vom Mercy Heights Boulevard entfernt.
    »Wir sind Nachbarn.« Er nannte ihr seine Adresse.
    »Oh«, sagte sie. »Ich bin nicht oft zu Hause. Der Dienstplan, Sie wissen schon.« Ihr Pieper ertönte. Sie lächelte entschuldigend.
    »Apropos Dienstplan«, sagte Jeremy.
    »Apropos.« Sie hängte sich das Stethoskop um den Hals, schnappte sich ihr Ärztehandbuch und ihr Notizbuch und stand auf. »Ich sehe Sie morgen.«
    »Gegen acht.«
    »Ich werde bereit sein.«
    Ihr Apartment lag im ersten Stock eines dreistöckigen Hauses, das einen düsteren Eindruck machte und nach einer ehemaligen Pension aussah. Medizinische Gerüche durchzogen den knarrenden Flur – vielleicht wohnten noch andere Assistenz- oder Krankenhausärzte hier und brachten Arzneiproben mit nach Hause –, der Teppichboden war abgetreten, braun und muffig, und an das oft gestrichene Geländer waren zwei Fahrräder angekettet.
    Angela kam innerhalb von Sekunden nach Jeremys Klingeln an die Tür.

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