Der Pathologe
Rest liegt in meinem Kühlschrank. Durch den Scotch habe ich einen trockenen Mund bekommen, und durch die Pizza wurde das nicht besser, also habe ich Wasser getrunken. Drei große Gläser. Ich hab Zeitung gelesen, ferngesehen – wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Shows nennen.«
»Bitte«, sagte Doresh.
»Sie machen Witze.«
»Ganz im Gegenteil, Doc.«
Jeremy ratterte die ganze Liste herunter.
»Das ist eine Menge Fernsehen, Doc.«
»Normalerweise lese ich bei Kerzenlicht«, sagte Jeremy, »aber ich bin gerade mit dem Kompendium der Weltliteratur und Chaucer und Shakespeare fertig geworden und dachte, ich gönne mir eine kleine Auszeit.«
Doresh musterte ihn. »Sie haben ja Sinn für Humor. Das hatte ich bisher nicht bemerkt.«
Die Situation hat nicht gerade danach verlangt, du Idiot.
Der Ärzteparkplatz kam in Sicht, und Jeremy ging schneller. Regen trommelte auf das Dach des Durchgangs und floss an den Seiten herunter wie ein Behang aus Glyzerin.
»Wie heißt der Pizzadienst?«, fragte Doresh.
Jeremy sagte es ihm. »Wer ist umgebracht worden?«
»Wer hat gesagt …«
»Geschenkt«, sagte Jeremy. »Ich habe Höllenqualen durchgestanden, und Sie haben es für mich nicht leichter gemacht. Und jetzt gehen Sie mir immer noch auf den Keks, anstatt rauszufinden, wer Jocelyn umgebracht hat.«
Doreshs Augen verengten sich, und er stellte sich vor Jeremy, blockierte seinen Weg. »Dafür zu sorgen, dass die Leute sich gut fühlen, gehört nicht zu meinem Job.«
»Schön. Dann kommen wir zum Kern der Sache. Sie sind hier, weil etwas passiert ist. Etwas, das Jocelyns Fall so ähnlich ist, dass Sie mich noch mal überprüfen wollen.«
Doresh richtete den Blick zu Boden. Als ob die Wahrheit ihm Schande machte. Als ob Verbrechen ein persönliches Versagen wäre.
»Nun«, sagte er, »Sie werden es sowieso morgen in der Zeitung lesen. Ja, es ist etwas passiert, das Ms. Banks’ Fall sehr ähnlich ist.« Er zog die Revers seines Regenmantels fest über der Brust zusammen, machte die Knöpfe aber nicht zu. »Passiert ist es einer Prostituierten, drüben in Iron Mount. Eine Frau, die schon seit einiger Zeit aktenkundig war, Drogen, Aufforderung zur Unzucht, das Übliche. In diesem Sinn Ms. Banks überhaupt nicht ähnlich. Aber die Wunden …«
»Mein Gott«, sagte Jeremy.
Doresh gab ihm den Weg frei.
»Iron Mount«, sagte Jeremy. »Das ist nicht weit von den Shallows.«
»Ganz und gar nicht weit, Doc.«
»Eine Prostituierte … und Sie denken wirklich …«
»Von Zeit zu Zeit denke ich tatsächlich«, sagte Doresh. Er lächelte über seinen eigenen Witz. »Das ist alles, Doc. Einen schönen Tag noch.«
»Ich habe mehrere Nachrichten für Sie hinterlassen, Detective. Ein Foto, das Ihre Leute aus meinem Haus mitgenommen …«
»Ja, ja. Beweismaterial.«
»Wann bekomme ich es zurück?«
»Schwer zu sagen. Vielleicht nie.« Doreshs Achselzucken war derart beiläufig, dass Jeremy versucht war, ihn zu schlagen. »Ich mache mich besser auf den Weg, Doc. Hab alle Hände voll zu tun.«
7
In dieser Nacht spielte Doresh eine tragende Rolle in Jeremys Träumen, ein Buddha im Regenmantel, und der Geschmack von fettigen Hafengarnelen lag ihm auf der Zunge. Am Morgen stand er früh auf und holte die Zeitung herein. Die Schlagzeilen trieften vor volkswirtschaftlichem Jammer und den Verbrechen der Politik, die Journalisten des
Clarion
schwadronierten exaltiert von künftigen Kriegen, Ungerechtigkeit und Schmach.
Was er suchte, fand er auf Seite 18.
Der Name der Frau lautete Tyrene Mazursky. Trotz des polnischen Nachnamens war sie eine Schwarze gewesen, fünfundvierzig, eine drogenabhängige Hure vom Straßenstrich mit dem ausführlichen Vorstrafenregister, von dem Doresh gesprochen hatte.
Außerdem eine fünffache Mutter.
Iron Mount war ein verkommenes Labyrinth verwachsener Straßen und nachträglich gezogener Gassen, die so eng waren wie in den Ursprüngen der Stadt zwischen Pferdekutschen und Eisenverhüttung. Jeremy war genau ein Mal dort gewesen: vor sehr langer Zeit als Assistenzarzt anlässlich eines Hausbesuchs bei einem Jungen, der nach Ansicht aller misshandelt wurde.
Mit einer Alkoholikerin als Mutter und einem Junkie als Vater zählte der fünf Jahre alte Junge zu den kleinsten und leichtesten seines Jahrgangs, Sprachvermögen und Wortschatz waren die eines Zweijährigen. Eine glückliche Familie plus ein paar namenlose Junkiekumpel lebten in einer armseligen Wohnung über einer Karosseriewerkstatt, weit
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