Der Pathologe
Gottweißwelchenblödsinn von sich.
Das Mädchen begann wieder zu schreien.
Der Assistenzarzt sagte: »Scheiße, ziehen wir’s einfach
durch
.«
»Halt!«, befahl Jeremy. Die Schärfe in seiner Stimme brachte den Raum zum Verstummen.
Auch das Mädchen.
Er konzentrierte sich. Unterdrückte das Zittern, das ihn zu verraten drohte.
Drang zu ihr durch.
Innerhalb weniger Sekunden schlossen sich die Augen des Mädchens, und sie atmete langsam und konnte nicken, als Jeremy sie fragte, ob sie bereit sei. Der Assistenzarzt, der nun selbst ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten zu sein schien, machte seine Sache mit barmherzigem Geschick, zog die Punktionsnadel heraus, füllte ein Fläschchen mit goldener Rückenmarksflüssigkeit und verließ kopfschüttelnd den Behandlungsraum.
Das Mädchen weinte, und das war okay, das war gut so, sie hatte alles Recht der Welt, das arme Ding, das arme arme Ding, sie war doch noch ein Kind.
Jeremy blieb bei ihr, ertrug ihr Wimmern, wich nicht von ihrer Seite, bis sie bereit war zu lächeln und er sie dazu brachte. Er war am ganzen Körper mit übel riechendem Schweiß bedeckt, aber niemand schien es zu bemerken.
Nachher trat ihm draußen auf dem Flur eine der Krankenschwestern in den Weg und sagte: »Das war erstaunlich, Dr. Carrier.«
Angelas Lupus-Patientin schrie nicht. Sie war eine bleiche, hübsche Frau namens Marian Boehmer, die ihrer panischen Angst dadurch Ausdruck verlieh, dass sie starr und stumm wurde. Ihre Augen waren tot. Ihre Lippen zwei dünne Striche. In der falschen Umgebung hätte ihr ein Trottel von einem Psychofritzen vielleicht das Etikett
Katatonie
verpasst.
Angela trat von ihrem Bett zurück, machte Jeremy Platz. Angelas seidiges Haar war mit einem Gummiband zusammengefasst, der Stress hatte ihr Make-up aufgezehrt, und ihre Haut war von einer Gefängnisblässe. Sie sah aus, als hätte sie sehr lange nicht mehr geschlafen.
Das ist sie an ihrem Tiefpunkt,
dachte Jeremy.
So sieht sie an einem schlimmen Morgen aus. Und immer noch ziemlich gut.
Das Gerät zur Knochenmarkspunktion lag ausgepackt auf einem Tablett neben dem Bett. Chrom, Glas und Dolchspitzen, dieses schreckliche knirschende Ding, das dazu diente, das Sternum zu durchstoßen, so dass blutbildende Zellen abgesaugt werden konnten. Um eine gewisse Hebelwirkung zu erzielen, beugte sich der Arzt von oben über den Patienten und lehnte sich mit einigem Gewicht darauf, übte einen ziemlichen Druck aus. Patienten, die bereit waren, darüber zu reden, sagten, es fühle sich an, als würde man erstochen.
Marian Boehmers Wangen waren frei von dem Wolfsmasken-Ausschlag, der zu erkennen gab, dass mit ihrem Immunsystem etwas nicht stimmte. Wenn man den Anfangsschreck überwand, sah sie wirklich okay aus. Hellhäutig und blond, leichtes Untergewicht, nettes Gesicht. Ehering und ein kleiner Diamant am rechten Ringfinger. Wo war der Ehemann? Hatte das etwas zu bedeuten, dass er nicht hier war?
Alles hat etwas zu bedeuten. Im Moment spielte es keine Rolle. Dieser Frau würde gleich das Brustbein punktiert werden.
Jeremy stellte sich vor. Lächelte und redete und lächelte und redete und hielt ihre Hand und spürte die vertrauten Anzeichen seiner eigenen Ängste – das beengte Gefühl in der Brust, der Schweiß der Empathie, der Anflug des Schwindels.
Es bestand keine Gefahr, sich zu blamieren – der Horror des ersten Mals war seine Feuertaufe gewesen.
Mittlerweile rechnete er mit der Angst. Begrüßte sie.
Wenn er half, litt er. Der springende Punkt bestand darin, es zu verbergen.
Der springende Punkt am
Leben
bestand darin, es zu verbergen.
Er streichelte der Frau die Hand, riskierte einen sanften Schlag auf ihre Stirn, und als sie nicht zurückzuckte, erzählte er ihr, wie gut sie sich anstellte, wobei er in den verführerischen Singsang der Hypnose verfiel.
Keine formelle Einleitung, nichts derart vulgär Theatralisches. Nur ein subtiles, graduelles Ausgreifen nach einer parasympathischen Reaktion, die Entspannung und Konzentration miteinander verband und Geist und Körper langsamer werden ließ.
Befördern Sie sich selbst an einen schönen Ort, Ms. Boehmer – darf ich Sie Marian nennen, danke schön, Marian, das ist gut, Marian, vorzüglich, Marian.
Wie toll Sie das machen, Marian – und hier ist Dr. Rios, und ja, ja, bleiben Sie dran, Marian, gut, großartig – wunderbar, Marian, und … das war’s schon, das haben Sie toll gemacht, es ist vorbei, und Sie waren großartig.
Während der
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