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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Sie hatte ihr herrliches dunkles Haar zurückgebunden und zu einem straffen Zopf geflochten, der ihr auf den Rücken fiel. Ein weicher weißer Pullover veranlasste Jeremy, ihre Brüste zur Kenntnis zu nehmen. Der Pullover endete direkt über ihrer Taille, und darunter hatte sie eine schwarze Hose mit engem Bund und schwarze hochhackige Sandalen an. Sie trug Perlenohrringe und einen winzigen Rubin an einer fadendünnen Goldkette. Unauffälliges Make-up.
    Das straffe Haar betonte das dunkle Oval ihres Gesichts. Ihre braunen Augen sprühten vor Interesse, ihre Lippen teilten sich zu einem Lächeln. Sie roch großartig.
    »Ich bin bereit, wie versprochen!« Sie streckte die Hand aus, ergriff seine und schüttelte sie hart.
    Fast eine militärische Geste, und Jeremy unterdrückte ein Lächeln.
    Vielleicht spürte sie, dass er amüsiert war, weil sie errötete. Fasste seinen Mantel ins Auge. »Ist es richtig kalt?«
    »Frisch.«
    »Ich bin ein Kind der Sonne, mir ist immer kalt. Ich hol mir noch ein Umhängetuch, und weg sind wir.«
    Er nahm sie mit zu einem Italiener mittlerer Preisklasse, einem Familienbetrieb auf der besseren Seite von Lady Jane. Der aufgewerteten Seite: Ladenfronten, die zu gedämpft beleuchteten Kneipen und Buchhandlungen, Blumenläden und Restaurants mit fünf Tischen umgebaut worden waren. Spuren früherer Tage wurden durch die übermalten Fenster von Staubsauger-Reparaturwerkstätten, ausländischen Schneidern, chinesischen Wäschereien und Billigapotheken vor Augen geführt. Der Regen, der die Stadt vier Tage in Folge tyrannisiert hatte, hatte aufgehört, die Luft war herrlich, und die Straßenlaternen strahlten, als wären sie dankbar dafür.
    Jeremy lief ums Auto herum, um Angelas Tür aufzumachen – alte Gewohnheiten; die Academy hatte ihm gutes Benehmen eingebläut. Als sie aus dem Wagen stieg, nahm sie ihn beim Arm.
    Das Gefühl – das schwache Festkrallen – weiblicher Finger an seinem Ärmel …
    Die Frau des Küchenchefs – sie hatte einen Busen, auf dem man ein Wörterbuch hätte ablegen können, und ein freundliches Lächeln – empfing sie und führte sie zu einer Nische im hinteren Teil, brachte Grissini und Speisekarten und einen kleinen Teller mit nach Knoblauch duftenden Oliven. Der perfekte Ort für ein erstes Rendezvous.
    Und dies war in der Tat ein Rendezvous.
    Was sonst, du Genie?
    Angela bestellte beiläufig, als ginge es hier nicht ums Essen.
    Sie kamen ungezwungen ins Gespräch.
    Aus irgendeinem Grund – vielleicht lag es an ihrem Eifer, vielleicht an der Schlichtheit ihres Benehmens – hatte Jeremy angenommen, Angela wäre ein ehrgeiziges Kind aus der Arbeiterschicht, möglicherweise die Erste ihrer Familie mit einer Collegeausbildung.
    Damit lag er völlig daneben. Sie war unter angenehmen, geradezu komfortablen Bedingungen an der Westküste aufgewachsen, und ihre Eltern waren beide Ärzte – der Vater Rheumatologe, die Mutter Dermatologin, beide mit einer klinischen Professur an einer ausgezeichneten medizinischen Fakultät. Ihr jüngerer Bruder – sie hatte keine weiteren Geschwister – absolvierte gerade ein Promotionsstudium in Teilchenphysik.
    »Gelehrte Leute«, sagte er.
    »So war es wirklich nicht«, erwiderte sie. »Kein Druck, meine ich. Eigentlich wollte ich nie Ärztin werden. Mein Hauptfach im ersten Studienjahr war Tanz.«
    »Da haben Sie ja eine ganz schöne Bandbreite abgedeckt.«
    »Das stimmt wohl.« Ihr Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Wie um das zu überspielen, aß sie eine Knoblaucholive. »Was ist mit Ihnen? Wo kommen Sie her?«
    Jeremy erwog die Alternativen. Es gab eine kurze Antwort: die letzte Stadt, in der er gelebt hatte, die Universität, wo er sein Examen gemacht hatte, die elaborierte Abschweifung zum Gespräch über die Arbeit.
    Die lange Antwort lautete: Als Einzelkind war er fünf Jahre alt gewesen, als Mom und Dad bei einer Massenkarambolage am Silvesterabend auf einem schneeglatten Highway getötet wurden. Im Moment des tödlichen Zusammenstoßes hatte er im Haus seiner Großmutter mütterlicherseits geschlafen und von dem Brettspiel Candy Land geträumt. Er konservierte diese Erinnerung wie einen seltenen Schmetterling. Aber der Rest seiner Vorwaisenzeit war ein verschwommener Fleck. Nanas Gesundheitszustand hatte sich kurz darauf verschlechtert, und sie war in ein Pflegeheim gesteckt worden; aufgezogen wurde er von der Mutter seines Vaters, einer äußerst altruistischen Frau, die sich von der erdrückenden

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