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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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gerne flirtete. Er muss mein Gesicht gesehen und gemerkt haben, wie schockiert ich war. Er sagte: ›Alles okay, Mädchen?‹–›Klar‹, sagte ich und hab eine große Show daraus gemacht, die Spritze zu überprüfen. Dann hab ich gelogen und ihm erzählt, irgendwas wäre mit der Spritze nicht in Ordnung, zu viele Luftbläschen, wir müssten eine neue besorgen. Ich ließ ihn dort liegen, warf die verdammte Spritze in die nächste Sondermülltonne, ließ die Oberschwester kommen und zeigte ihr die Verordnung. Sie war eine kluge Frau, eine erfahrene Frau, sie wusste mehr über Dosierungen als die meisten Ärzte. Sie sagte: ›Ach, du meine Güte‹, und dann erholte sie sich und erklärte: ›Natürlich werden wir niemandem etwas sagen, nicht wahr?‹ Und ich antwortete: ›Natürlich nicht.‹ Sie schlug vor, dass ich den richtigen Wert in die ursprüngliche Verordnung eintrage, und das habe ich getan. Dann hab ich eine neue Spritze aufgezogen, bin wieder reingegangen und hab dem armen Kerl sein Insulin verpasst. Er lächelte mich an. ›Da sind Sie ja, ich hab Sie vermisst. Vielleicht können Sie und ich eines Tages zusammen ausgehen, Schätzchen, einen draufmachen.‹ Ich hab zurückgelächelt – zu durcheinander, um beleidigt zu sein, und außerdem ist er ein alter Typ, eine andere Generation, wie kann man da Anstoß nehmen? ›Na ja, Mr. Soundso‹, hab ich gesagt, ›man kann nie wissen.‹ Und als ich aus dem Zimmer ging, hab ich ein bisschen mit dem Hintern gewackelt. Um ihm eine Freude zu machen – ich weiß, das war billig, aber dieser Typ wäre beinahe gestorben, und ich wäre beinahe die gewesen, die ihn getötet hätte. Er hat einen kleinen Spaß verdient, oder? Und auch ein wenig Buße von meiner Seite.«
    Ihre Lippen zitterten. Sie hob das winzige grüne Glas und leerte es in einem Zug.
    »Zur Buße besteht kein Grund«, sagte Jeremy. »Du bist die Heldin der Geschichte.«
    »Reines Glück. Es war so knapp. Seitdem bin ich paranoid, was Dosierungen angeht, überprüfe alle zwei- und dreimal. Vielleicht macht mich das zu einer besseren Ärztin. Weißt du, was der schlimmste Teil der Geschichte ist? Der behandelnde Arzt – der Idiot, der seine Dezimalstellen nicht auf die Reihe bekam – hat es nie erfahren. Wir haben ihn gedeckt, haben es ihm nie erzählt. Wozu macht mich das? Zu einer Mitverschwörerin?«
    »Wenn du es ihm gesagt hättest, hätte er es abgestritten. Und du hättest mit dem schwarzen Peter dagesessen.«
    »Ich weiß, ich weiß«, sagte Angela bekümmert. »Was für ein romantischer Abend – tut mir Leid, Jeremy.«
    Jeremy drückte seine Nase an die warme, duftende Stelle hinter ihrem Ohr. Frauen waren so weich. So fein gemacht.
    »Du bist ein wundervoller Mensch«, sagte sie. »Wir sollten uns das hier bewahren.«
    Eine Woche später erhielt er eine Ansichtskarte aus Oslo.
    Eine groteske Fotografie, irgendein Ort, der Skulpturen-Garten Vigeland hieß. Monumentale Plastiken supermuskulöser Figuren, die in einer grünen, parkähnlichen Umgebung ausgestellt waren. In Jeremys Augen sahen die Gestalten auf aggressive Weise proletarisch aus –
wagnerianisch
.
    Auf der Rückseite der Karte stand in schwarzer Füllfedertinte nach rechts geneigt geschrieben:
      
Lieber Dr. C…
    Auf jeder Reise lerne ich dazu.
    A.C.
    Der alte Bursche macht weiter und verschwindet einfach so. Warum auch nicht? Arthur war emeritiert, lebte allein, hatte keine Verpflichtungen.
    Hatte sich verkleinert.
    Jeremy war überzeugt, dass Arthur das viktorianische Haus nicht deshalb aufgegeben hatte, weil ihm plötzlich aufgefallen war, dass es zu groß für ihn war.
    Ramona Purveyance kannte den Grund, sie hätte ihn fast ausgeplaudert:
Der Professor hat dort lange rumgegammelt, viel zu lange nach …
    Aber als Jeremy nachgefragt hatte, hatte sie ausweichend geantwortet.
    Hatte es in Arthurs Leben eine Tragödie gegeben? Ein Ereignis, das sein Leben veränderte? Vielleicht hatte der alte Mann bloß einen ziemlich normalen Schicksalsschlag erfahren und war Witwer geworden.
    Verlust der liebenden Ehefrau, die Jeremy sich vorgestellt hatte. Das hätte vielleicht gereicht, um Arthurs Bedürfnis nach Geselligkeit einzuschränken. Ihn veranlasst, sein Vergnügen woanders zu suchen.
    Späte Abendessen mit Exzentrikern von ähnlicher Geisteshaltung.
    Jeremy legte die Ansichtskarte in eine Schreibtischschublade. Als er Anna, die Sekretärin im Fakultätsbüro, das nächste Mal sah, dankte er ihr dafür, dass sie ihm Arthurs

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