Der Pathologe
er hier«, sagte Jeremy. »Das müssen jetzt …«
»Zehn Jahre sind es«, verkündete sie. »Fünf Jahre nach meinem Einzug. Das Haus liegt ziemlich ruhig, für manche Leute aus der Stadt ist die Umstellung schwierig. Nicht für den Professor. Er hat sein großes Haus mit allem, was darin war, verkauft und fühlt sich hier richtig wohl.«
»Das Haus in Queen’s Arms?«
»Oh, ja«, sagte Ramona. »Er hat mir Fotos gezeigt. Ein großer alter Bau – viktorianisch.«
Mit einer Sache hatte er Recht gehabt! Endlich!
»Muss ein wundervoller Ort gewesen sein«, fuhr sie fort. »Schöne alte Möbel, diese hübschen bleiverglasten Fenster. Aber viel zu groß für eine Person. Der Professor hat mir erzählt, er hätte dort lange rumgegammelt, viel zu lange nach … viel länger, als gut für ihn war.« Sie zuckte zusammen. »Sind Sie auch ein Pathologe, Dr. Carrier?«
»Psychologe. Länger, als gut für ihn war, Mrs. Purveyance?«
Die Schokoladenaugen wichen seinem Blick nicht aus. »Lange nachdem er bemerkt hatte, wie unpassend ein derart großes Haus für jemanden war, der allein lebt.«
»An das Alleinsein muss man sich mitunter gewöhnen.«
»Haben Sie je allein gelebt, Dr. Carrier?«
»Immer schon.«
Ramona Purveyance knetete ihre Finger und musterte ihn. »Ein Psychologe. Das muss ziemlich interessant sein.«
Sie lächelte, aber etwas in ihrem Tonfall verriet Jeremy, dass es ihr völlig egal war. »Professor Chess und ich besprechen von Zeit zu Zeit interessante klinische Fragen«, sagte er. »Er ist äußerst interessiert an psychosozialen Themen.«
»Natürlich ist er das«, sagte sie. »Der Mann ist so neugierig wie ein Kind. Manchmal sehe ich ihn dort draußen.« Sie zeigte durch ein Fenster hinaus auf das Grasmeer. Die Raben hatten sich nahe dem Horizont zusammengefunden, klein und schwarz wie Fliegendreck. »Er läuft dort herum und betreibt seine Forschungen, kniet sich hin und zieht das Gras auseinander, sucht nach Insekten und wer weiß was noch. Manchmal nimmt er seinen Metalldetektor mit und sucht mit ihm den Boden ab. Manchmal nimmt er einen Spaten und gräbt die Erde um.«
»Hat er je etwas gefunden?«
»Oh, auf jeden Fall. Pfeilspitzen, alte Münzen, Flaschen. Einmal hat er ein Perlenhalsband gefunden, das er mir geschenkt hat. Kleine barocke Perlen, einige waren ›vernarbt‹, aber als Ensemble immer noch bezaubernd. Ich hab das Halsband meiner Enkelin Lucy geschenkt – sie ist gerade im richtigen Alter, so dass sie schöne Dinge zu schätzen weiß. Die Welt ist eine Schatzkammer, wenn man nur weiß, wo man nachsehen muss.« Sie blickte zur Tür. »Hätten Sie gern eine Tasse Tee?«
»Nein, danke. Ich mache mich besser auf den Weg.«
»Dr. Carrier«, sagte sie, »dieser Ausdruck, den Sie benutzt haben –›psychosozial‹. Was genau bedeutet das?« Sie neigte den Kopf zur Seite, die Parodie einer koketten alten Dame. »Ich tue gern etwas für meinen Wortschatz.«
»Das Zusammenspiel von Psychologie und sozialen Aspekten. Aspekte, die von gesellschaftlicher Brisanz sind. Armut, Verbrechen, Gewalt. Professor Chess ist insbesondere an Gewaltverbrechen interessiert.«
Ramona Purveyance sah auf ihre Hände hinunter. »Ich verstehe … nun ja, ich muss mich um meine Wäsche kümmern. Soll ich ihm sagen, dass Sie vorbeigeschaut haben?«
»Ja, vielen Dank«, erwiderte Jeremy. »Ach, hat er eigentlich einen großen Koffer gepackt?«
»Nicht dass ich wüsste, Sir«, sagte Ramona und nahm ihre Teetasse in die Hand. Was darin war, musste kalt sein, aber sie trank langsam. Ihre dunklen Augen über dem Rand der Tasse musterten ihn.
»Keine Ahnung?«, fragte Jeremy.
»Er hat mir letzte Nacht einen Zettel unter der Tür durchgeschoben mit der Bitte, ob ich mich um seine Post kümmern könnte. Das muss spät gewesen sein, weil ich bis elf Uhr auf war. Als ich um sechs wach wurde, war er schon weg.«
Die Teetasse wurde gesenkt. Ramona Purveyance’ Gesicht war ausdruckslos, aber ihre Augen waren wachsam. Jeremy lächelte. »Das sieht Professor Chess ähnlich. In diesem wunderschönen Lincoln zu einem weiteren Abenteuer aufzubrechen.«
»Es ist ein wunderbarer Wagen, nicht wahr? Er pflegt ihn sehr sorgfältig – jede Woche wäscht und poliert er ihn und saugt den Innenraum, aber nein, ich glaube kaum, dass er ihn genommen hat. Wenn er verreist, lässt er im Allgemeinen ein Taxi kommen, das ihn abholt. Oder er fährt mit seinem anderen Wagen und lässt ihn am Flughafen stehen.«
»Seinem
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