Der Pathologe
Behandlung mit ihm durchsprechen.«
»Ein Notfall?«
»Nicht ganz, Ma’am. Aber eine wichtige Angelegenheit.«
»Oh … und Sie sind den ganzen Weg hier herausgekommen. Wie engagiert Sie alle sind – es ist so ein gutes Krankenhaus. Alle meine Kinder sind dort zur Welt gekommen. Damals war Professor Chess noch ein junger Mann. Groß und gut aussehend. Er hatte eine ausgezeichnete Art, mit Kranken umzugehen.« Sie kicherte. »Natürlich war ich damals auch jung. Er hat seine Sache ausgezeichnet gemacht.«
»Professor Chess hat Ihre Babys zur Welt gebracht?«
»Oh, ja. Ich weiß, er ist jetzt Pathologe, aber damals hat er auf medizinischem Gebiet alles Mögliche gemacht. Was für ein wundervoller Mann. Ich war so glücklich, als ich erfuhr, dass wir Nachbarn sein würden. Leider ist er nicht da, mein Lieber.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo er sich aufhält?«
»Ach, er reist die ganze Zeit«, sagte die Frau. »Soll ich ihm ausrichten, dass Sie vorbeigekommen sind, Doktor …«
»Carrier. Also ist er bestimmt verreist?«
»Oh, ja. Wenn Professor Chess auf Reisen ist, kümmere ich mich um seine Post.« Sie lächelte, nahm ihre Teetasse in die linke Hand und hielt ihm die rechte hin. »Ramona Purveyance.«
Jeremy ging quer über den Treppenabsatz. Ihre Hand war weich und ein bisschen feucht, ihre angeschwollenen Finger übten keinen Druck aus.
»Er verreist sehr gern«, sagte er.
Ramona Purveyance nickte enthusiastisch.
»Ich frage mich«, sagte Jeremy, »wie lange er wohl diesmal weg ist.«
»Schwer zu sagen. Manchmal nur einen Tag, manchmal eine Woche. Er schickt mir Postkarten.«
»Von wo?«
»Von überall. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.«
Jeremy folgte ihr in ein enges, von zwei Fenstern erhelltes Apartment, die nach hinten hinausgingen und einen Blick auf das Grasmeer gewährten. Eigentlich eine richtige Wiese, die sich mit einer kaum wahrnehmbaren Steigung bis zum Horizont erstreckte. Mehrere Raben zogen ihre Kreise und waren von dem rußfarbenen Himmel nur zu unterscheiden, wenn sie in die Risse hinabstießen, die die Gewitterwolken voneinander trennten. Die Wirkung war verblüffend – optische atmosphärische Störungen.
»Sie sind immer dort draußen«, sagte Ramona Purveyance. »Wunderschöne Tiere, ihrem schlechten Ruf zum Trotz.«
»Was für ein schlechter Ruf?«
»Wissen Sie, sein Auftritt in der Bibel. Noah lässt den Raben ausfliegen, um Land zu suchen, aber der Rabe versagt. Es war die Taube, die den Olivenzweig zurückbrachte. Ich halte sie aber trotzdem für wunderschöne Geschöpfe. Allerdings nicht für friedlich. Manchmal haben wir Kardinäle hier, diese bezaubernden roten Vögel. Die Raben vertreiben sie.«
Sie setzte ihre Teetasse auf einem niedrigen Beistelltisch aus Glas ab, zog eine Schublade auf und sagte: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie hier reingelegt habe.«
Jeremy sah sich in der Wohnung um. Die Wände waren grün gestrichen – ein Krankenhausgrün –, und die Möbel waren ziemlich neu, hell und billig. Ein paar Drucke – gerahmte Seestücke, die aus Kalendern ausgeschnitten waren – waren die einzigen Kunstgegenstände. Keine Nippsachen, keine Andenken. Keine Familienporträts, die man bei einer alten Frau erwarten würde.
Aber das war eine törichte Annahme, eine romantisch angehauchte Version von Familienleben. Familien brachen auseinander. Oder hoben nie richtig vom Boden ab.
Was hätte
er
vorzuzeigen, wenn er alt war?
Ramona Purveyance zog Schubladen auf, schob sie wieder zu, sagte: »Hmm.« Das Wohnzimmer ging in eine kleine, blitzsaubere Küche über. Falls die Frau kochte, tat sie das geruchlos.
»Ah, da haben wir sie ja«, sagte sie. In ihrer Hand lag ein Bündel Ansichtskarten, die von einem breiten roten Gummiband zusammengehalten wurden. Ohne zu zögern, reichte sie es Jeremy.
Das erste Dutzend stammte aus Übersee. London, Paris, Istanbul, Stockholm, München. Die Kanalzone – Arthur auf Besuch in seinem alten militärischen Revier? –, Brasilien, Argentinien. Der nächste Stapel stammte ausnahmslos aus den Vereinigten Staaten: der Kratersee in Oregon, New York City, St. Louis, Los Angeles, Bryce Canyon, Santa Fe, New Mexico.
Schöne Aufnahmen bekannter Sehenswürdigkeiten auf der einen Seite, immer die gleiche Botschaft auf der anderen, in einer vertrauten Handschrift:
Liebe Mrs. P…
Auf jeder Reise lerne ich dazu.
A.C.
»Er ist so ein Schatz, daran zu denken«, sagte Ramona Purveyance.
»Seitdem ich ihn kenne, wohnt
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