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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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erlebt, wenn nachts plötzlich ein Tier vors Auto läuft und gleich wieder im Gebüsch am Straßenrand verschwindet. Ein Augenblick der Angst, der sofort wieder vergeht.
    Jahrzehntelang hatte er in einer Welt der Verschwiegenheit gearbeitet, in der Geheimnisse unter emotionalen Nebelschleiern und unter Panzern der Skepsis verschwanden, im Morast verdrängter Erinnerungen versanken oder unter dem Deckel der Leugnung und der Depressionen gehalten wurden. Bestand die Psychoanalyse bestenfalls darin, die Frustrationen schichtenweise abzupellen, damit die Wahrheit zutage treten konnte, so schien der Computer das klinische Äquivalent zum Skalpell zu bieten. Details und Fakten huschten wie Echoimpulse über den Monitor und waren mit wenigen Eingaben freigelegt. Er hasste das ebenso sehr, wie es ihn faszinierte.
    Dabei wurde Ricky auch bewusst, wie antiquiert der von ihm erwählte Beruf im Grunde war. Und ganz schnell hatte er erkannt, wie gering seine Chance gewesen war, das Spiel gegen Rumpelstilzchen zu gewinnen. Als er die fünfzehn Tage zwischen dem Brief und seinem Scheintod Revue passieren ließ, wurde ihm klar, wie leicht es der Mann gehabt hatte, jeden Zug, den Ricky machen würde, vorauszusehen, wie berechenbar jede einzelne seiner Reaktionen gewesen war.
    Ricky dachte angestrengt über einen anderen Aspekt des Spiels nach. Jeder Moment war im Vorhinein geplant, jeder Augenblick hatte ihn in eine Richtung getrieben, die eindeutig erwartet worden war. Rumpelstilzchen hatte ihn bis ins Letzte so gut gekannt wie er sich selbst. Virgil und Merlin waren eingesetzt worden, um ihn so abzulenken, dass er nie ein klares Bild bekam. Sie hatten das halsbrecherische Tempo vorgegeben, ihn bis zum letzten Tag mit Forderungen überhäuft, hatten jede Bedrohung real und handgreiflich erscheinen lassen.
    Jeder Schritt hatte von Anfang an im Drehbuch gestanden. Von Zimmermans Tod durch die U-Bahn bis zu seiner Fahrt zu Dr. Lewis in Rhinebeck, bis hin zu dem Archiv in dem Krankenhaus, in dem ihn Claire Tyson aufgesucht hatte. Was macht ein Psychoanalytiker?, fragte sich Ricky. Er legt die einfachsten, doch unantastbaren Regeln fest. Einmal täglich, fünfmal die Woche stehen die Patienten bei ihm auf der Matte und melden sich mit dem verabredeten Klingelzeichen. Dank dieses geregelten Ablaufs nahm das Chaos ihres Lebens allmählich Gestalt und eine erkennbare Ordnung an. Und damit gewannen sie Kontrolle.
    Die Aufgabe, die vor ihm lag, war denkbar einfach, dachte Ricky: Er durfte nicht länger vorhersagbar sein.
    Das traf die Sache nicht ganz, korrigierte er sich. Richard Lively durfte so normal wie nötig sein oder so normal, wie er wollte. Der nette Typ von nebenan. Frederick Lazarus dagegen sollte von einem anderen Kaliber sein.
    Ein Mann ohne Vergangenheit, ging es ihm durch den Kopf, kann jede beliebige Zukunft schreiben.
     
    Frederick Lazarus verschaffte sich einen Bibliotheksausweis und tauchte in die Kultur der Rache ab. Gewalt. Jede Seite,die er las, triefte vor Gewalt. Er las historische Abhandlungen, Dramen, Gedichte und Sachliteratur mit Schwerpunkt auf dem Genre »Wahre Verbrechen«. Er verschlang Romane, die vom Thriller aus dem Vorjahr bis zum Schauerroman aus dem neunzehnten Jahrhundert reichten. Er brütete über Theaterstücken, bis er den
Othello
fast auswendig konnte, und versenkte sich noch tiefer in
Die Orestie
. Bruchstücke davon kramte er aus seinem Gedächtnis hervor und las Passagen noch einmal, die ihm aus der College-Zeit haften geblieben waren. Er widmete einen Großteil seiner Zeit dem Mann, dem er seinen Computernamen verdankte, wie auch dem Namen, den er gegenüber dem Obdachlosen benutzt hatte, dessen Brieftasche er entwenden konnte. Er sog die Stelle in sich auf, an der Odysseus den Freiern die Tür vor der Nase zuschlägt und prompt sämtliche Männer ermordet, die ihn tot geglaubt hatten.
    Bis dahin hatte Ricky wenig von Verbrechen und Verbrechern gewusst, doch jetzt wurde er schnell zum Experten – zumindest in dem Maße, wie man aus Büchern lernen konnte. Zu seinen Lehrern gehörten Thomas Harris und Robert Parker, Norman Mailer ebenso wie Truman Capote. Edgar Allan Poe und Arthur Conan Doyle wurden reichlich mit FBI-Ausbildungshandbüchern angereichert, die über Internet-Anbieter zu beziehen waren. Er las darüber, wie Psychopathen dachten und warum sie töteten, und arbeitete eine ganze Enzyklopädie über Serienmörder von A bis Z durch. Namen und Verbrechen geisterten durch seine

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