Der Patient
bevor Sie aufstehen, einen Bolzenschneider finden und Brutus da loslassen können. Ich könnte mir denken, dass er sich über ein kurzes Tête-à-tête mit mir im Dunkeln freuen würde.«
Bei der Bemerkung musste der Zwingerbesitzer grinsen. »Er ist der einzige Hund, den ich kenne, der nachtragend ist. Also meinetwegen, tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
Ricky fesselte dem Mann die Hände mit Universalklebeband. Dann stand er auf.
»Sie rufen sie an, nicht wahr?«
Der Mann nickte. »Wenn ich jetzt nein sagen würde, dann wären Sie doch nur sauer, weil Sie wüssten, dass ich lüge.«
Ricky lächelte. »Da könnten Sie richtig liegen.«
Er schwieg, während er sich überlegte, was genau er ihnen durch den Zwingerbesitzer ausrichten lassen wollte. Alle möglichen Reime geisterten ihm durch den Kopf. »Also, Folgendes werden Sie ihnen sagen:
Lazarus lebt, er kommt euch näher.
Er ist der unsichtbare Späher.
Er ist hier. Er ist dort.
Vielleicht ist er an jedem Ort.
Das Spiel ist im Gange, es geht zügig voran,
Und Lazarus glaubt, dass nur er gewinnen kann.
Auch wenn er das praktisch jetzt schon weiß,
Schaut trotzdem in die nächste Voice.«
»Klingt wie ’n Gedicht«, sagte der Mann, während er mit dem Bauch auf der Kieseinfahrt lag und versuchte, den Kopf in Rickys Richtung zu drehen.
»Eine Art von Gedicht. Und jetzt eine kleine Übung. Sagen Sie es für mich auf.«
Es kostete mehrere Anläufe, bis der Zwingerbesitzer es einigermaßen beherrschte.
»Ich kapier das alles nicht«, sagte der Mann, nachdem er die Verse gemeistert hatte. »Was soll das Ganze?«
»Spielen Sie Schach?«, fragte Ricky.
Der Mann nickte. »Allerdings nicht besonders gut.«
»Also«, sagte Ricky, »dann seien Sie dankbar, dass Sie nur ein Bauer sind. Und Sie brauchen auch nicht mehr zu wissen als ein Bauer. Denn worum geht es schließlich beim Schach?«
»Die Königin kassieren und den König schachmatt setzen.«
Ricky lächelte. »Ziemlich heiß. Hat mich sehr gefreut, mit Ihnen und klein Brutus zu plaudern. Darf ich Ihnen noch einen Rat geben?«
»Was für einen?«
»Machen Sie diesen Anruf. Sagen Sie das Gedicht auf. Gehen Sie und versuchen Sie, all die Hunde einzusammeln, die abgehauen sind. Und dann wachen Sie morgen auf und vergessen Sie einfach, dass es diese Begegnung gegeben hat. Kehren Sie zu einem normalen Leben zurück und denken Sie nie wieder an das alles.«
Der Zwingerbesitzer rutschte unbehaglich hin und her und machte dabei ein scharrendes Geräusch auf dem Kies. »Vielleicht nicht so ganz einfach.«
»Kann schon sein«, erwiderte Ricky. »Trotzdem einen Versuch wert.«
Er stand auf und ließ den Mann auf dem Boden liegen. Ein paar von den Hunden hatten sich ausgestreckt und sprangen auf, als er ging. Ricky steckte die Waffe in den Rucksack, behielt aber die Taschenlampe in der Hand und rannte den Kiesweg entlang Richtung Straße. Als er den erleuchteten Bereich rund um den Zwinger verlassen hatte, beschleunigte er sein Tempo und lief die dunkle Straße weiter bis zum Friedhof, auf dem er sein Auto abgestellt hatte. Seine Füße klatschten bei jedem Schritt auf dem geteerten Boden, und er knipste die Taschenlampe aus, um durch die pechschwarze ländliche Umgebung weiterzulaufen. Es erinnerte ihn ein wenig daran,im sturmgepeitschten Meer zu schwimmen und gegen die Wellen anzukämpfen, die aus sämtlichen Richtungen an ihm zerrten. Während ihn die pechschwarze Nacht verschluckte, hatte eine einzige glühend heiße Erkenntnis Licht in das Dunkel gebracht. Die Telefonnummer. In dieser Sekunde hatte Ricky das Gefühl, als sei alles, was von jenem ersten Brief in seiner Praxis an bis just zu diesem Augenblick geschehen war, Teil einer einzigen, reißenden Strömung. Und vielleicht, fügte er innerlich hinzu, ging alles noch viel weiter. Sie reichte Monate, Jahre in seine Vergangenheit zurück und holte ihn jetzt ein, riss ihn unaufhaltsam mit, und er hatte es bis dahin nicht einmal gemerkt. Die Erkenntnis hätte ihm alle Kräfte rauben müssen, doch stattdessen empfand er eine seltsame Energie und eine ebenso seltsame Erleichterung. Die Erkenntnis, dass er mit einem Lügengespinst abgespeist worden war und plötzlich anfing, klar zu sehen, war wie ein Katalysator, der ihn weitertrieb.
Er hatte in dieser Nacht noch eine lange Wegstrecke vor sich. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Beide führten ihn in die Vergangenheit, während sie ihm zugleich die Zukunft wiesen. Er rannte wie ein
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