Der Patient
schwieg und fügte dann hinzu: »Wer immer ich heute bin. Wer immer ich vielleicht morgen bin.«
Ricky lehnte sich ein wenig zurück und beobachtete die Wirkung seiner Worte in Virgils Gesicht. »Was sagten Sie noch gleich, Virgil? Über Ihren selbst gewählten Namen? ›Jeder braucht einen Seelenführer auf dem Weg zur Hölle.‹«
Sie nahm einen weiteren langen Schluck und nickte. »Das habe ich gesagt«, erwiderte sie leise.
Ricky lächelte gehässig. »Ich hätte es nicht besser formulieren können«, sagte er.
Dann stand er abrupt auf und schob den Stuhl mit einer heftigen Bewegung zurück.
»Auf Wiedersehen, Virgil«, sagte er und beugte sich zu der jungen Frau herunter. »Ich denke, Sie werden mein Gesicht nie wiedersehen wollen, denn dann könnte es das Letzte sein, was Sie je zu sehen bekommen.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, machte Ricky kehrt und lief forsch aus dem Restaurant. Er musste ihre zitternde Hand, ihr bebendes Kinn nicht sehen, er wusste, dass diese Reaktionen nahe lagen. Es ist schon seltsam mit der Angst, dachte er. Äußerlich macht sie sich auf so vielfältige Weise bemerkbar, aber nichts davon ist so stark wie die Klinge, die einem direkt durch Herz und Magen schneidet, oder der elektrischeSchlag, den die Phantasie erleidet. Ihm kam der Gedanke, dass er aus dem einen oder anderen Grund einen Großteil seines Lebens in der Angst vor allem Möglichen zugebracht hatte, eine endlose Folge von Zweifeln und Ängsten. Doch jetzt verbreitete er selbst Angst und Schrecken, und wenn er ehrlich war, fand er es gar nicht mal so unangenehm. Ricky tauchte in den Menschentrauben unter, die zur Mittagspause durch die Straßen strömten, so dass er Virgils Blick entschwand und sie – wie zuvor ihren Bruder – mit der bohrenden Frage zurückließ, in welcher Gefahr sie sich tatsächlich befand. Ricky bahnte sich eilig einen Weg durch das Gewühl und wich den Menschen wie ein Schlittschuhläufer auf einer belebten Eisbahn aus, während er in Gedanken ganz woanders war. Er versuchte, sich ein Bild von dem Mann zu machen, der ihn einmal in den perfekten Selbstmord getrieben hatte. Wie, überlegte Ricky, würde der Psychopath reagieren, wenn die einzigen beiden Menschen auf der Welt, die ihm noch etwas bedeuteten, sich bis ins Mark bedroht fühlten?
Ricky drängte auf dem Bürgersteig voran und dachte: Er wird schnell handeln wollen. Er wird die Sache sofort klären wollen. Anders als früher wird er nicht lange fackeln. Jetzt packt ihn die kalte Wut, und er wird alle seine Schutzmechanismen und seine ganze Schulung über den Haufen werfen.
Vor allem aber: Jetzt wird er einen Fehler machen.
34
In früheren Jahren, als sein Leben sich noch in ein normales, erkennbares Muster fügte, hatte Ricky in den jetzt so fernen Sommerferien bei einem der alten und besonders fähigen Angelführer gebucht und in den Gewässern am Cape nach Schwärmen von Blaufisch und großen Streifenbarschen gefischt. Nicht dass Ricky sich für einen erfahrenen Angler oder einen ausgeprägten Naturburschen hielt. Doch er hatte es genossen, in einem kleinen, offenen Boot in den frühen Morgen hinauszufahren, in die Nebelschwaden, die noch über dem grauschwarzen Ozean hingen, die feuchte Kälte auf der Haut zu spüren, die den ersten zarten Sonnenstrahlen am Horizont trotzten, und dem Führer dabei zuzusehen, wie er das Boot durch Fahrrinnen an Untiefen vorbei navigierte, bis sie die Fischgründe erreichten. Und er hatte es immer wieder beachtlich gefunden, wie der Mann inmitten der bewegten Wasserflächen wusste, in welchem Meeresabschnitt Fische zu finden waren, und wenn sie sich noch so tief in den düsteren Farben der See versteckten. Einen Köder durch eine solche kalte Weite gleiten zu lassen, so viele Variablen wie Strömungen und Gezeiten, Temperatur und Lichtverhältnisse in die Gleichung einzubeziehen und dann das Gesuchte aufzuspüren, war etwas, das Ricky, der Psychoanalytiker, bewundert und stets aufs Neue faszinierend gefunden hatte.
Als er in seinem Hotelzimmer in New York still dasaß und seine Gedanken ordnete, kam ihm der Gedanke, dass er selbstsich auf einen recht ähnlichen Vorgang eingelassen hatte. Jetzt musste er den Haken spitzen. Er glaubte nicht, dass Rumpelstilzchen ihm mehr als diese eine Chance bieten würde.
Ihm war durch den Kopf gegangen, dass er, nachdem er die jüngeren Geschwister gestellt hatte, fliehen konnte, doch ihm war augenblicklich klar, dass das nichts nützen würde. Dann würde
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