Der Patient
er für den Rest seines Lebens über jedes ungewöhnliche Geräusch im Dunkeln erschrecken, bei jedem Laut in seinem Rücken unruhig werden, es bei jedem Fremden, der in seine Blickrichtung trat, mit der Angst bekommen. Ein unmögliches Leben, das er damit zubrachte, vor etwas und jemandem davonzulaufen, das oder der nicht zu erkennen war, ihm aber niemals von der Seite weichen und jeden seiner Schritte wie ein Phantom begleiten würde.
Ricky wusste so sicher wie das Amen in der Kirche, dass er in dieser letzten Phase über Rumpelstilzchen siegen musste. Das war die einzige Chance, je wieder selbst über sein Leben zu bestimmen und es halbwegs so zu führen, wie er hoffte.
Er glaubte zu wissen, wie er das bewerkstelligen konnte. Die ersten Elemente seines Plans waren bereits umgesetzt. Es war nicht schwer zu erraten, worum sich die Gespräche der Geschwister drehten, während er hier in seinem billigen Zimmer saß. Sie würden sich nicht am Telefon beraten. Sie würden sich treffen, denn sie mussten sich sehen, um sich zu vergewissern, dass sie in Sicherheit waren. Es würde schon mal laut werden, es würde ein paar Tränen und einigen Ärger geben, vielleicht knallten sie sich gegenseitig Vorwürfe an den Kopf. Alles war für sie glatt gegangen, während sie an allen naheliegenden Zielpersonen aus ihrer Vergangenheit tödliche Rache übten. Nur in einem Fall war die Sache gründlich schief gelaufen, und das bereitete ihnen heftiges Kopfzerbrechen. Er hörte förmlich den Satz »Du hast uns da reingeritten!« gegendie schattenhafte Gestalt gerichtet, die ihnen in all den Jahren so viel bedeutet hatte. Mit einiger Genugtuung dachte Ricky an die Panik, die in dem Vorwurf lag, da es ihm gelungen war, einen kleinen Keil zwischen das unzertrennliche Geschwistertrio zu treiben. Egal wie überzeugend das Bedürfnis nach Rache gewesen war, wie ausgeklügelt der Plan gegen Ricky und all die anderen, so gab es doch einen Umstand in dem Ganzen, den Rumpelstilzchen nicht berücksichtigt hatte: Bei aller zwanghafter Gefolgschaft hegten die beiden jüngeren Geschwister ehrgeizige Zukunftspläne für ein achtsames, bürgerliches Leben. Jeder auf seine Weise suchten sie Normalität mit klar gesteckten Grenzen. Allein Rumpelstilzchen war bereit, diesen Rahmen zu verlassen, die anderen beiden nicht, und so boten sie Angriffsflächen.
Diesen Unterschied hatte Ricky entdeckt, und er war, wie er sehr wohl wusste, ihre größte Schwäche.
Es würden harte Worte zwischen ihnen fallen, das war klar. So grausam das Spiel gewesen war, so blieb es nur einem von ihnen überlassen zu schubsen, zu schießen und zu töten. Jemandes Ruf zu ruinieren oder Anlagekonten zu plündern war wahrlich boshaft gewesen, doch immerhin war dabei kein Blut geflossen. Sie hatten das Böse unter sich aufgeteilt, doch die schlimmsten Taten blieben an einem Einzigen von ihnen hängen.
Das hatte Mr. R. zu erledigen; so wie er in ihrer Kindheit die meiste Prügel und Grausamkeit abbekommen hatte, so war die eigentliche Gewalt jetzt sein Metier. Die anderen beiden hatten ihm nur geholfen und die seelische Befriedigung geteilt, die Rache mit sich bringt. Der Unterschied zwischen dem, der etwas in die Wege leitet, und dem, der es zu Ende bringt, dachte Ricky. Nur dass sich jetzt ihre Komplizenschaft an ihnen selbst rächte.
Sie hatten gedacht, sie hätten es geschafft, doch dem war nicht so.
Er schmunzelte innerlich. Es gibt nichts Vernichtenderes, als die allmähliche Erkenntnis, dass man gejagt wird, nachdem man so lange die Rolle des Jägers gewohnt ist. Und das war, wie er hoffte, die Falle, die er aufgestellt hatte, denn selbst der Psychopath würde die Gelegenheit ergreifen, seine Position der Stärke wiederzuerlangen, die dem Raubtier so selbstverständlich ist. Die Gefahr für Virgil und Merlin würde ihn dahin treiben. Die wenigen dünnen Fäden, die Mr. R. mit der Normalität verbanden, waren sein Bruder und seine Schwester. Was ihm im innersten Winkel seiner psychopathologischen Welt an Menschlichkeit geblieben war, das war die Beziehung zu seinen Geschwistern. Er würde alles daransetzen, sie zu beschützen. Es ist wirklich ziemlich einfach, bläute Ricky sich ein. Lass den Jäger denken, er jagt und pirscht sich an sein Opfer heran, während er in Wahrheit in einen Hinterhalt tappt.
In einen Hinterhalt, dachte Ricky mit einigem Sinn für Ironie, den die Liebe ihm stellt.
Ricky fand etwas Schmierpapier und arbeitete eine Weile an einem Vers. Als er
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