Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
ausgesucht hatte, war ein Lieblingslokal seiner Frau gewesen, obwohl Virgil das wohl kaum ahnte. Er hatte es ausgesucht, weil es einen entscheidenden Vorzug hatte: ein großes Panoramafenster zwischen Bürgersteig und den Gästen. Ricky erinnerte sich, dass man aufgrund der Beleuchtung im Restaurant nicht gut hinaussehen konnte, dagegen viel leichter hinein, und auch die Tische waren so arrangiert, dass man eher gesehen wurde, als sehen konnte. Genau so wollte er es haben.
    Er wartete, bis eine Gruppe Touristen, vielleicht ein Dutzend deutsch sprechende Männer und Frauen, die grellbunte Hemden und ganze Kolliers aus Kameras um den Hals baumeln hatten, an der Vorderseite des Restaurants vorbeigesegelt war. So wie vorher im Gericht, trottete er einfach mit ihnen mit. Es ist schwierig, dachte er, in einer Gruppe Fremder das eine bekannte Gesicht zu entdecken, wenn man nicht damit rechnet. Kaum war das Touristenrudel vorbei, drehte er sich rasch um und sah Virgil wie erwartet in einer Ecke des Restaurants sitzen und sehnlichst auf den Hoffnungsträger warten. Allein.
    Er ging an dem Fenster vorbei und holte einmal tief Luft. Der Anruf kommt jetzt jeden Moment, dachte Ricky. Merlin hatte sich Zeit gelassen, und auch damit hatte Ricky gerechnet. Er hatte sich zweifellos erst gewaschen und umgezogen, sich bei den Kollegen entschuldigt, die allesamt schockiert gewesen waren. Was für eine Erklärung hatte er sich einfallen lassen? Wütender Gegner, der in einem Prozess unterlag? Damit konnten die anderen sich identifizieren. Er hatte sie alle davonüberzeugt, dass es unangemessen sei, die Polizei zu rufen; er würde vielmehr den Anwalt des Tintenspritzers telefonisch zur Rede stellen – vielleicht eine einstweilige Verfügung erwirken. Doch er würde das selbst regeln. Die anderen Männer hatten dann sicher genickt und ihm angeboten, jederzeit als Zeugen zu fungieren oder auch, falls erforderlich, bei der Polizei Erklärungen abzugeben. Doch das hatte ebenso wie das Waschen und Umziehen einige Zeit gedauert, denn er wusste, dass er, komme was da wolle, am Nachmittag wieder im Gericht sein musste. Wenn Merlin dann endlich zu seinem ersten Anruf kam, dann galt er seinem älteren Bruder. Sie mussten sich ausgiebig besprechen, denn es war nicht damit getan, dass er erzählte, was geschehen war, sondern sie mussten auch versuchen, die Implikationen richtig einzuschätzen. Sie würden ihre Situation analysieren und über ihre Optionen nachdenken. Schließlich würden sie, immer noch unsicher, wie sie reagieren sollten, das Gespräch beenden. Dann erst wäre ein Anruf bei Virgil fällig, doch dem war Ricky zuvorgekommen.
    Er lächelte, drehte sich energisch um und marschierte zügig durch die Tür des Restaurants. Im Eingang stand eine Hostess bereit, die zu ihm aufsah, um die übliche Frage zu stellen, doch er winkte ab und sagte: »Die Dame, mit der ich verabredet bin, ist schon da …«, während er rasch das Restaurant durchquerte.
    Virgil saß abgewandt, wechselte jedoch die Haltung, als sie Bewegung im Rücken spürte.
    »Hallo«, sagte Ricky, »erinnern Sie sich an mich?«
    Ihr ganzes Gesicht zuckte fassungslos.
    »Weil«, fuhr Ricky fort, während er sich setzte, »ich mich nämlich an Sie erinnere.«
    Virgil sagte nichts, obwohl sie vor Verblüffung zurückgewichenwar. Für das Treffen mit dem Produzenten hatte sie eine Mappe mit Fotos sowie einen Lebenslauf auf dem Tisch bereitgelegt. Jetzt nahm sie beides langsam und bedächtig und ließ sie auf den Boden gleiten.
    »Die brauche ich wohl nicht«, sagte sie. Er hörte zweierlei aus ihrer Reaktion heraus: Unentschlossenheit und das Bedürfnis, sich zu fassen. Das bringen sie ihnen im Schauspielunterricht bei, dachte Ricky, und in diesem Moment greift sie in diese Trickkiste und kramt die Lektion hervor.
    Bevor Ricky etwas sagen konnte, ging ein Summton in ihrer Handtasche los. Ein Handy. Ricky schüttelte den Kopf. »Das muss Ihr mittlerer Bruder, der Anwalt sein, um Sie zu warnen, dass ich bereits heute Vormittag in sein Leben getreten bin. Und bald kommt dann auch der andere Anruf von Ihrem ältesten Bruder, der von Berufs wegen mordet. Denn der will Sie bestimmt auch beschützen. Gehen Sie nicht dran.«
    Ihre Hand schwebte in der Luft.
    »Oder was?«
    »Nun ja, Sie sollten sich die Frage stellen, ›Wie verzweifelt ist Ricky?‹, und dann die naheliegende Anschlussfrage, ›Wozu wäre er fähig?‹«
    Virgil ließ das Handy klingeln, das nach einer Weile

Weitere Kostenlose Bücher