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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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und noch näher kommen würde, wenn er nur durchhielt und wartete. Er wünschte sich, er hätte daran gedacht, sich eine Flasche Wasser mitzubringen oder eine Thermoskanne Kaffee, doch das hatte er nicht. Es ist schwer, dachte er, Mordpläne zu schmieden und gleichzeitig an so banale Dinge zu denken.
    Gelegentlich krümmte er die Hände und trommelte stumm mit dem Zeigefinger seitlich an den Abzugsbügel. Einmal erschreckte ihn eine Fledermaus, die über seinen Kopf hinwegsauste; ein andermal tauchten ein paar Rehe für ein, zwei Sekunden aus dem Wald auf. Er konnte nur ganz vage ihre Umrisse erkennen, bis sie unruhig wurden, ihm das weiße Hinterteil zuwandten und mit tänzelnden Sprüngen ins Dickicht flüchteten.
    Ricky wartete weiter. Der Mörder war voraussichtlich mit der Nacht vertraut und fühlte sich im Dunkeln sicher. Der Tag bringt einem Killer nur Nachteile. Er kann zwar sehen, wird aber auch erkannt. Ich kenne dich, Mr. R. Du willst das hier im Dunkeln zu Ende bringen. Du kommst bestimmt.
    Etwa dreißig Minuten nachdem die Scheinwerfer des letztenAutos über die dunkle Ebene geschwebt waren, Lichtkegel, die sich hinter den Bäumen langsam in der Ferne verloren, erspähte Ricky ein anderes Auto, das auf der Straße näher kam. Es fuhr ein wenig langsamer, fast zögerlich, ein kleines bisschen unentschlossen.
    Das Licht verharrte an der Stelle, an der die Einfahrt zu seinem Grundstück lag, und brauste dann um die Ecke davon.
    Ricky zuckte zurück und verkroch sich noch tiefer in das Loch, in dem er sich versteckte.
    Jemand hat gefunden, wonach er sucht, dachte er, wollte sich aber nicht verraten.
    Er wartete weiter. Die nächsten zwanzig Minuten verstrichen in völliger Dunkelheit, doch Ricky lag jetzt wie die Schlange eingerollt auf der Lauer. Das Licht seiner Armbanduhr half ihm, abzuschätzen, was sich außerhalb seines begrenzten Gesichtsfelds abspielte. Fünf Minuten, genügend Zeit, um den Wagen an einer Stelle zu parken, wo er nicht zu sehen war. Zehn Minuten, genügend Zeit, um zum Eingang seines Grundstücks zurückzulaufen. Nochmals fünf Minuten, um sich unter dem Dach der Zweige lautlos anzuschleichen. Jetzt hat er die letzte Baumreihe erreicht, kalkulierte Ricky. Taxiert die Ruine des Hauses aus der Ferne. Er zog sich weiter in seinen Schlupfwinkel zurück und steckte die Füße unter seinen Poncho.
    Ricky verschrieb sich eiserne Geduld. Er merkte, wie ihm Adrenalinschübe in den Ohren pochten und sein Puls sich wie bei einem Hochleistungssportler beschleunigte, doch er beruhigte sich, indem er stumm Passagen aus der Literatur aufsagte. Dickens: »Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten.« Eine Zeile von Camus: »Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht.« Bei dieser Erinnerung musste er trotz der Angst, die in seinemInnern lauerte, unwillkürlich schmunzeln. Ein passendes Zitat, dachte er. Seine Augen schossen in alle Richtungen und suchten die Dunkelheit ab. Es war ein bisschen so, als machte er unter Wasser die Augen auf. Er sah alle möglichen Formen und Gestalten in ständiger Bewegung, ohne etwas zu erkennen. Dennoch wartete er, denn er wusste, dass seine einzige Chance darin bestand, zu sehen, bevor er gesehen wurde.
    Der Nieselregen hörte endlich auf, was blieb, war ein glitzernder Film. Die anfängliche Kühle während des Gewitters war gewichen, und Ricky spürte, wie erneut eine schwere, feuchte Wärme auf seiner Umgebung lastete. Aus Angst, dass das asthmatische Rasseln in jedem seiner Atemzüge meilenweit zu hören sein könnte, atmete er bewusst langsam. Er blickte zum Himmel und sah die Umrisse einer Wolke, die in bauschigem Grau über den schwarzen Hintergrund glitt, als würde sie von einem unsichtbaren Ruderer angetrieben. Durch ein Loch, das die Wolke im Vorbeiziehen riss, trieb der Mond einen matten Lichtstrahl in die Nacht. Ricky ließ den Blick von rechts nach links schweifen und sah, wie sich eine Gestalt aus dem Schutz der Bäume löste.
    Ricky starrte auf die Gestalt, die nur für Sekunden im bleichen Licht zu erkennen war, fast wie ein Schatten, der sich von der übrigen Dunkelheit nur durch ein satteres Schwarz abhob. In dieser kurzen Zeit sah er, wie die Person etwas an die Augen hob und sich dann langsam drehte wie der Ausguck auf einem Boot, der das Wasser vor dem Bug nach Eisbergen absucht.
    Ricky zog sich noch weiter zurück und drückte sich an die Trümmer. Er biss sich auf die Lippen, denn er wusste

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