Der Patient
auf der Jagd nach ihm zu diesen beiden Stellen kommen, denn entgegen allem, was der Mann bei der
Village Voice
ihm erzählt haben mochte, würde er nicht glauben, dass es bei dieser Reise ans Cape um irgendeine andere Angelegenheit ging als ums Sterben. Er würde wissen, dass alles andere purer Selbstbetrug wäre und dass es bei dem eigentlichen Spiel um die Erinnerungen des einen gegen die des anderen ging.
35
In den ersten Stunden seiner nächtlichen Wache prasselte der Regen, gepaart mit Blitz und Donner über dem Meer, in heftigen Schauern nieder, bis er schließlich schwächer wurde und in ein irritierendes stetiges Nieseln überging. Während das Gewitter über ihn hinwegzog, sanken die Temperaturen um mindestens sechs Grad und erfüllten die Dunkelheit mit einer Kälte, die ganz und gar unpassend schien. Die aufpeitschenden Gewitter hatten Sturmböen mit sich gebracht, die am Saum seines Ponchos zerrten und in den Trümmern und verkohlten Überresten ringsum ein Knarren und Knirschen erzeugten, als hätten auch sie in dieser Nacht eine Rechnung zu begleichen. Ricky blieb wie ein Jäger in Deckung und wartete auf das Erscheinen des Wilds. Er dachte an die vielen Stunden, die er reglos und schweigsam hinter seinen Patienten auf der Couch verbracht hatte, und er fand es irgendwie komisch, dass ihn diese Zeit der stillen Kontemplation vorzüglich für die Wache in dieser Nacht gewappnet hatte.
Er bewegte sich nur gelegentlich, und auch dann nur, um seine Muskeln geschmeidig zu halten, damit sie nicht im entscheidenden Moment versagten. Die meiste Zeit saß er angelehnt da, das Moskitonetz über dem Kopf, den Poncho über den Körper gebreitet, mehr wie ein konturloser Haufen als eine menschliche Gestalt. Von seinem Versteck aus konnte er dennoch das offene Feld überblicken, das – besonders wenn sich am Himmel die Gewitter entluden – Besucher zu seinemHaus gezogen hatte. Er saß in einer Stellung, die ihm erlaubte, durch die Baumgruppen draußen an der Hauptstraße hindurch Lichtstreifen von Scheinwerfern zu sehen, und er war zuversichtlich, dass er durch die kompakte feuchte Nacht das Geräusch eines Automotors hören würde.
Er hatte nur eine Sorge: dass Rumpelstilzchen mehr Geduld aufbringen könnte als er selbst. Ricky bezweifelte das zwar, war sich aber nicht hundertprozentig sicher. Immerhin hatte er als Kind über Jahre so viel Hass aufgestaut und so lange gewartet, bevor er seine Fallen zuschnappen ließ, dass er vielleicht jetzt, in diesem letzten Stadium, zögerte, dass er einfach hinter irgendeiner Baumreihe Stellung bezog und mehr oder weniger dasselbe tat wie Ricky, nämlich auf eine verräterische Bewegung warten, um sich dann anzupirschen. Das war das Risiko, auf das sich Ricky in dieser Nacht einlassen musste, doch er fand, dass er sich, falls er verlor, gut abgesichert hatte. Alles, was er getan hatte, zielte darauf, Mr. R. zu provozieren. Wut und Angst und Drohungen fordern eine Reaktion heraus. Ein Profikiller war ein Mann der Tat. Ein Analytiker nicht. Ricky setzte seine Hoffnungen darauf, dass er eine Situation geschaffen hatte, in der seine eigenen Stärken die seines Gegners kompensierten. Das, was er selbst gelernt hatte, stand gegen die Ausbildung des Killers. Er wird den ersten Schritt machen, hämmerte sich Ricky immer wieder ein. Alles, was du über menschliches Verhalten weißt, sagt dir, dass es so ist. In dem Spiel um Tod und Erinnerung, in das die beiden Männer sich verbissen hatten, war Ricky im Vorteil. Er kämpfte auf vertrautem Terrain.
Mehr, dachte er, ist nicht drin.
Bis zehn Uhr nachts hatte ein stickig feuchter, schwarzer Trichter die Welt um ihn herum geschluckt. Er merkte, wie seine Sinne geschärft und sein Kopf überwach auf sämtlicheNuancen der Nacht reagierte. Seit über einer Stunde hatte er keinen Wagen gehört, keine Scheinwerfer in der Ferne ausgemacht, und der Regen schien sämtliche nachtaktiven Tiere in ihre Höhlen getrieben zu haben, so dass nicht einmal das Kratzen eines Opossums oder eines Stinktiers auf Nahrungssuche durch das Dunkel drang. Dies war, wie er erkannte, der Moment, in dem ihn ein wenig der Mut verließ, seine Entschlossenheit wankte, die ersten Zweifel hochkrochen und ihm einzureden versuchten, er wartete törichterweise auf jemanden, der nie erscheinen würde. Er mokierte sich innerlich über das Gefühl, bestand darauf, dass Rumpelstilzchens Kommen so ziemlich das einzig Sichere, dass Rumpelstilzchen bereits in der Nähe war
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