Der Patient
Zeit zum Sterben oder Zeit zum Weitermachen; welches von beiden, das würden die nächsten Stunden erweisen.
Ricky akzeptierte das Unvermeidliche seiner Situation, während er aus dem Fenster auf die vorbeifliegende Landschaft starrte. Je weiter der Bus Richtung Cape donnerte, beobachtete Ricky, desto bescheidener wurden die Bäume und Sträucher. Das Leben im Sandboden unweit des Meeres wurde zusehends rauer. Es fiel schwer, in die Höhe zu wachsen, wenn man im Winter von stürmischen Winden gebeutelt wurde.
Nicht weit von Provincetown entdeckte Ricky ein Motel an der Route 6, an dem noch nicht das AUSGEBUCHT-Schild leuchtete, was vermutlich dem wenig verheißungsvollen Wetterbericht zu verdanken war. Er bezahlte für das Wochenende in bar. Der Portier nahm das Geld mit gelangweilter, gleichgültiger Miene entgegen und hielt, wie Ricky vermutete, denneuen Gast für nichts weiter als einen konfusen, in die Jahre gekommenen Bostoner Geschäftsmann, der seinen Phantasien nicht länger widerstehen konnte und sich für ein paar Tage in das grellbunte, sommerliche Nachtleben aus Sex und Schuldgefühlen stürzte. Er tat nichts, um diesem Verdacht entgegenzutreten, sondern fragte den Portier sogar, wo die besten Clubs der Stadt zu finden seien, die Art Lokale, in denen Singles nicht lange alleine blieben.
Ricky fand einen Laden für Campingausrüstung und kaufte sich noch einmal ein Insektenspray, eine starke Taschenlampe sowie einen viel zu großen, matt olivfarbenen Poncho. Dazu einen breitkrempigen Hut in Tarnfarben, der schlichtweg lächerlich aussah, jedoch einen entscheidenden Vorzug besaß: An der Krempe war ein Moskitonetz befestigt, das man über Kopf und Schultern ziehen konnte. Wieder einmal kam ihm die Wettervorhersage für das Wochenende zupass: Schwüle, Gewitter, verhangener Himmel, hohe Temperaturen. Ein widerwärtiges Gebräu. Ricky erzählte dem Mann hinter der Theke, er wolle trotzdem einiges im Garten tun, was jeden Einkauf, den er tätigte, hinlänglich erklärte.
Als er auf die Straße trat, sah er, wie sich im Westen die ersten Gewitterwolken zusammenballten. Er horchte auf fernes Grollen und sah prüfend nach oben, wo der immer dunklere, graue Himmel scheinbar den nahen Abend heraufbeschwor. Er schmeckte Regen in der Luft und beeilte sich, seine Vorbereitungen abzuschließen.
Die Stunden schleppten sich dahin, das Tageslicht wollte nicht weichen, als eiferte es mit der heraufziehenden Regenfront um die Wette. Als er endlich die Straße zu seinem alten Haus erreichte, hatte der Himmel eine fast kränkelnde braune Färbung angenommen. Der Bus, der die Route 6 entlang fuhr,hatte ihn ein paar Meilen vorher abgesetzt, und er war, den Rucksack randvoll mit seinen Einkäufen und der Waffe auf dem Rücken, das letzte Stück mühelos gelaufen. Ricky dachte daran, wie er dieselbe Strecke vor fast einem Jahr zurückgelegt hatte, und er entsann sich, wie er außer Atem war, wie sehr ihm die Panik und der Schock über das, was er getan hatte, und das, was er als Nächstes tun musste, die Lunge leergepumpt hatten. Diesmal war alles anders. Er spürte so etwas wie Kraft, gepaart mit einem Maß an Einsamkeit, die nicht ganz frei von Selbstgefälligkeit war. Die Stelle, zu der er rannte, war weniger der Ort, an dem so viele Erinnerungen zusammenliefen, sondern viel mehr ein Ort, der von Veränderung kündete. Jeder Schritt auf dieser Strecke war ihm vertraut und doch surreal, als spielte sich dies alles auf einer anderen Daseinsebene ab. Er erhöhte sein Tempo und freute sich, dass er stärker als bei seinem letzten Rennen war, während er sorgsam darauf achtete, nicht einem einstigen Nachbarn über den Weg zu laufen, der vielleicht gerade aus seiner Einfahrt fuhr und sah, wie der Tote zu seinem abgebrannten Ferienhaus lief.
Ricky hatte Glück, die Straße war um die Abendessenszeit wie ausgestorben. Er bog in seine Einfahrt ab und ging langsamer. Im nächsten Moment verschwand er hinter den Baumgruppen und dem Gebüsch, das in den wärmeren Monaten auf dem Cape üppig spross. Er wusste nicht genau, was ihn erwartete. Ihm kam der Gedanke, dass irgendein Verwandter, der sich das Anwesen vielleicht unter den Nagel gerissen hatte, bereits den Schutt abgetragen, am Ende sogar mit dem Bau eines neuen Hauses begonnen hatte. In seinem Abschiedsbrief hatte er das Grundstück einem Naturschutzverein vermacht, doch er konnte sich gut vorstellen, dass es zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen geworden war,
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