Der Patient
Schockiert machte Ricky einen Schritt zurück, als wäre ihm gerade eine Ratte vor die Füße gerannt.
Sein erster Instinkt war, kehrtzumachen und wegzulaufen, sein zweiter, den Verschlag zu betreten. Und das tat er auch. Langsam näherte er sich dem Gitter und zog es auf. Er sah aufder Stelle, dass genau das, weswegen er heruntergekommen war, der Karton mit dem Computer seiner Frau, verschwunden war. Er arbeitete sich tiefer in den Stauraum vor. Teilweise stand er sich selbst im Licht von der Deckenlampe, so dass nur schmale helle Streifen durch das Dunkel schnitten. Er sah sich weiter um und merkte, dass noch eine Box fehlte, und zwar ein großer Karteikasten aus Plastik mit Kopien seiner gesamten Steuererklärungen.
Der Rest seines aussortierten Krams schien, was immer er davon hatte, unangetastet.
Niedergeschmettert wankte Ricky zurück, drehte sich um und eilte in den Lift. Erst als er aus dem Keller wieder ans Licht des Tages und an saubere Luft zum Atmen aufstieg, als er den Schmutz und Staub der dort unten abgelagerten Erinnerungen hinter sich ließ, wagte er, darüber nachzudenken, welchen Schaden der verschwundene Computer und die fehlenden Steuererklärungen wohl mit sich brachten.
Was ist gestohlen worden?, fragte er sich und schauderte, als ihm die Antwort klar vor Augen stand: Alles vielleicht.
Bei dem Gedanken an die fehlenden Steuererklärungen drehte sich ihm der Magen um, und er hatte einen bitteren Beigeschmack im Mund. Kein Wunder, dass der Anwalt Merlin so viel über seine Vermögenswerte wusste. Wahrscheinlich war ihm rein gar nichts hinsichtlich Rickys bescheidener Finanzen entgangen. Eine Steuererklärung ist wie eine Straßenkarte, auf der, von der Sozialversicherungsnummer bis zu gemeinnützigen Spenden, alles verzeichnet ist. Man kann darauf sämtliche Lebensrouten ablesen, mit Ausnahme ihrer Entstehungsgeschichte. Wie bei einer Straßenkarte erfährt man, was im Leben eines anderen von A nach B führt, wo sich die Mautschranken befinden und wo die Nebenstraßen einmünden. Was fehlt, sind lediglich Farbe und Beschreibung.
Der fehlende Computer machte Ricky nicht weniger Angst. Er hatte keine Ahnung, was sich noch auf der Festplatte befand, er wusste nur, dass es keine Tabula rasa war. Er versuchte, sich zu erinnern, wie viele Stunden seine Frau an dem Apparat zugebracht hatte, bevor die Krankheit sie so schwächte, dass sie nicht einmal tippen konnte. Wieviel von ihrem Schmerz, ihren Erinnerungen, Einsichten und virtuellen Reisen noch ablesbar waren, konnte er nicht sagen. Er wusste nur, dass erfahrene Computertechniker aus den Speicher-Chips alle möglichen Pfade abrufen konnten. Er ging davon aus, dass Rumpelstilzchen über die nötigen Fähigkeiten verfügte, um dem Apparat die Informationen zu entlocken, die er haben wollte.
Ricky stürzte in seine Wohnung. Der Übergriff fühlte sich an, als würde er mit einer heißen Rasierklinge aufgeschlitzt. Er sah sich um und verstand, dass Rumpelstilzchen auf alles, was Ricky für seine unantastbare Privatsphäre gehalten hatte, uneingeschränkten Zugriff hatte.
Nichts blieb verborgen.
Wäre er noch ein Kind gewesen, gestand er sich ein, hätte Ricky in diesem Moment geweint.
Durch seine Träume spukten in dieser Nacht düstere Bilder der Gewalt, in denen ihn Messer zerschnitten. In einem Traum versuchte er, sich durch einen schwach erleuchteten Raum zu manövrieren, während er die ganze Zeit wusste, dass er, falls er stolperte und fiel, durch das Dunkel in eine Art Vergessen hinabstürzen würde, doch während er planlos durch seine Traumlandschaft tappte, bewegte er sich linkisch und unkoordiniert, versuchte er, sich mit den Händen eines Betrunkenen an Wänden aus Dunstschwaden festzuklammern. Als er in seinem pechschwarzen Schlafzimmer erwachte, packteihn an der Grenze zwischen Schlafen und Wachen die blanke Angst. Sein T-Shirt war schweißgetränkt, sein Atem flach, seine Kehle kratzig, als hätte er mehrere Stunden lang seine Verzweiflung herausgeschrien. Einen Moment lang war er sich nicht sicher, ob er den Albtraum tatsächlich hinter sich gelassen hatte, und erst als er die Nachttischlampe anknipste und sich in seinen vertrauten, eigenen vier Wänden umsah, verlangsamte sich allmählich sein Puls.
Ricky ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken, auch wenn er wusste, dass er, wie sehr er sich auch danach sehnte, kaum Ruhe finden würde. Es fiel ihm nicht schwer, seine Träume zu deuten. Sie spiegelten den schlimmen
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