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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Zustand seines Lebens im Wachzustand.
    Die Anzeige erschien, wie von Rumpelstilzchen angewiesen, an diesem Morgen am unteren Rand der Titelseite in der
Times
. Er las sie sich mehrmals durch und kam zu dem Schluss, dass sie seinem Peiniger wenigstens zu denken geben würde. Ricky wusste nicht, wieviel Zeit der Mann sich mit seiner Antwort nehmen würde, rechnete aber mit einer baldigen Rückmeldung, vielleicht schon in der nächsten Nummer. Bis dahin würde er weiter an der Lösung des Rätsels arbeiten.
    Der Gedanke an die geschaltete Anzeige vermittelte ihm – vorübergehend und illusorisch – ein Gefühl des Triumphs; er hatte einen wichtigen Schritt unternommen, der seine Entschlusskraft stärkte. Die Verzweiflung, die ihn am Vortag bei der Entdeckung des doppelten Diebstahls ergriffen hatte, war, wenn auch nicht wirklich vergessen, so doch wirksam verdrängt. Die Anzeige gab Ricky das Gefühl, wenigstens für diesen Tag nicht das Opfer zu sein. Er merkte, dass er sich konzentrieren konnte und sein Gedächtnis geschärft, wenn auch nicht unbedingt verlässlich war. Während Ricky seine Erinnerungen sondierte und bedächtig durch seine eigeneBinnenlandschaft reiste, verflog der Tag so schnell wie irgendein gewöhnlicher Tag mit seinen Patienten.
    Bis etwa ein Uhr hatte er zwei getrennte Arbeitslisten zusammengetragen. Nach wie vor beschränkte er sich vorerst auf den Zeitraum von 1975 bis 1985 und trug in der ersten Liste ungefähr dreiundsiebzig Leute zusammen, die er behandelt hatte. Dabei reichte die Dauer der Therapie von maximal sieben Jahren im Falle eines schwer gestörten Mannes bis zu einem Schub von nur drei Monaten bei einer Frau mit Eheproblemen. Die meisten seiner Patienten waren zwischen drei und fünf Jahren bei ihm. Ein paar von ihnen kürzer. Die meisten behandelte er mit klassischer freudianischer Analyse vier-, fünfmal die Woche und griff dabei auf die verschiedenen Verfahrenstechniken zurück. Ein paar fielen aus diesem Rahmen; es handelte sich dabei um Leute, bei denen einfachere Gesprächssitzungen von Angesicht zu Angesicht genügten, in denen er mehr als gewöhnlicher Therapeut denn als Psychoanalytiker fungierte und Meinungen oder Kommentare abgab oder auch Ratschläge erteilte – all die Dinge, die ein Analytiker peinlichst vermied. Er stellte fest, dass er bis Mitte der Achtzigerjahre die meisten dieser Patienten abgenabelt und sich von da an ausschließlich auf die Tiefenerfahrung der Psychoanalyse beschränkt hatte.
    Da waren im Lauf dieser zehn Jahre, wie er wusste, auch noch vielleicht zwei Dutzend Fälle gewesen, die die Therapie abgebrochen hatten. Dafür konnte es vielfältige Gründe geben: Einige verfügten nicht über die Mittel oder die nötige Krankenversicherung, um seine Honorare zu bezahlen; andere hatten sich aus beruflichen oder schulischen Gründen zu einem Ortswechsel gezwungen gesehen; einige wenige waren verärgert zu dem Schluss gekommen, dass ihnen nicht ausreichend oder schnell genug geholfen wurde, oder waren schlichtzu erbittert über das, was die Welt ihnen zu bieten hatte, um mit der Therapie fortzufahren. Diese Fälle waren selten, aber immerhin vorhanden und bildeten seine zweite Rubrik.
    Und – auf den ersten Blick – seine weitaus heiklere Klientel. Diesen Leuten war zuzutrauen, dass sich ihre Wut auf Ricky zu einer Obsession verfestigt hatte, die sich später vielleicht ein anderer zu eigen machte.
    Er legte beide Listen vor sich auf den Tisch und überlegte, wie er sich als Nächstes daranmachen konnte, die Namen weiterzuverfolgen. Hatte er erst einmal Rumpelstilzchens Antwort, dachte er, konnte er auf jedem Blatt eine Reihe Leute streichen und sich von da aus weiter vorarbeiten.
    Den ganzen Vormittag hatte er damit gerechnet, dass das Telefon klingeln und sein Finanzberater sich melden würde. Er war ein wenig erstaunt, nichts von dem Mann zu hören, der Rickys Anlagen bislang mit öder Sorgfalt und Zuverlässigkeit geregelt hatte. Er wählte noch einmal die Nummer und erreichte auch diesmal nur die Sekretärin.
    Sie schien nervös, als sie seine Stimme hörte. »Ach, Dr. Starks, Mr. Williams wollte Sie gerade zurückrufen. Es hat einige Verwirrung bei Ihrem Depot gegeben«, sagte sie.
    Ricky zog sich der Magen zusammen. »Verwirrung?«, fragte er. »Wie kann Geld verwirrt sein? Menschen können verwirrt sein, vielleicht auch Hunde. Aber nicht Geld?«
    »Ich stell Sie zu Mr. Williams durch«, erwiderte die Sekretärin. Es herrschte einen Moment

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