Der Pestengel von Freiburg
würde.»
«Ich versteh nicht, wie du bei diesem Mannsbild immer sogleichmütig bleiben kannst. Das war doch eine blanke Drohung eben, das mit mir.»
Heinrich zuckte die Schultern. «Und wennschon – er weiß genau, dass er auf mich angewiesen ist. Diese Herren Doctores sind nur so gut wie der Wundarzt, der ihnen zur Hand geht.»
Nun, da sie die düstere Gasse am Fuße des Burgbergs erreichten, hatte wenigstens das Schneetreiben aufgehört. Heinrich blieb stehen und sah Clara an. Sein Blick war liebevoll und besorgt zugleich.
«Vielleicht ist es besser, wenn
ich
heute die Elsbeth zur Ader lasse. Du weißt ja, wie schwatzhaft die ist.»
«Nein, Heinrich! Jetzt erst recht.»
Wie ungewohnt still es in den Winterwochen war! Nur das Knirschen des festgefrorenen Schnees unter den Schuhen war zu hören, während Benedikt zwischen den verlassenen Stein- und Sandhaufen durch die Morgendämmerung schritt.
Vor vielen Jahrzehnten schon hatte man den Platz zwischen dem Chor der Pfarrkirche und den Häusern der Geistlichen mit Werkstätten, Häuschen und Schutzhütten überbaut, die zahllosen Menschen als Arbeits- und Lebensmittelpunkt dienten. Neben den Werkleuten der Steinmetzbruderschaft gab es da Maurer und Zimmerleute, Lastenträger und Mörtelmischer, Schmiede und Glaser, dazu Brotbäcker, Koch und Gesinde. Die Kirchenbauhütte bildete eine eigene Welt, in der nicht nur gearbeitet, sondern auch gegessen, geschlafen und gefeiert wurde. Jetzt lag diese Welt im Winterschlaf, die Kalkbrennöfen und Mörtelkästen waren verwaist, die Schmiedefeuer an der Kirchenmauer, wo sonst Werkzeuge, Beschläge und eiserne Verankerungen gefertigt wurden, erloschen.
Als Benedikt die Werkstatt betrat, hatte Daniel bereitsordentlich eingeheizt. Eine Handvoll Taglöhner scharten sich um ihn und nahmen seine Anweisungen entgegen. Bald hörte man nur noch die rhythmischen Schläge der Spitzeisen auf die rohen Quader und hin und wieder einen kräftigen Fluch, wenn ein Schlag danebenging.
Als Meisterknecht hätte Benedikt gar nicht selbst Hand anlegen müssen. Ihm oblag, die Taglöhner zu überwachen und hin und wieder zu prüfen, ob sie den Vorgaben gemäß arbeiteten. Doch den andern nur über die Schulter zu sehen lag Benedikt nicht. Genau wie Daniel bearbeitete er einen Rohling nach dem anderen.
Verstohlen blickte er auf den Stein neben seiner Werkzeugkiste. Es war ein im Ursprung annähernd würfelförmiges Stück, mit einer Kantenlänge von gut einer Spanne, dessen obere Fläche er bereits abgerundet hatte. Nach dem Feierabendläuten würden die Männer ihre Sachen aufräumen und heimgehen, sodass ihm dann noch eine Stunde bis zur Dunkelheit blieb, um ungestört an seinem Werk weiterzuarbeiten. Mit viel Phantasie ließ sich bereits jetzt der Umriss einer Büste erkennen, mit Kopf, Hals und Schultern. Vor seinem inneren Auge traten aus dem Sandstein die feinen Züge von Esthers Gesicht hervor. Er sah ihre leicht schräggestellten Augen unter den hohen Brauen, die schmale, lange Nase, darunter die geschwungenen Lippen, die, wenn sie zu lächeln begannen, ihre tiefblauen Augen zum Strahlen brachten und zwei kleine Grübchen in die Wangen zauberten – die linke ein wenig tiefer und runder als die rechte.
Als er vor zwei Wochen begonnen hatte, den Stein in Form zu hauen, war ihm mit einem Mal zu Bewusstsein gekommen, wie viel ihm Esther bedeutete. Oder anders ausgedrückt: dass sie ihm mehr war als nur die Freundin aus Kindertagen, mitder er durch die Gassen getobt war, Blindekuh, Plumpsack und Reifentreiben gespielt, Boote und Dämme gebaut hatte an den Bächlein der Stadt. Er erinnerte sich plötzlich an so viele vergessen gewähnte Bilder und Eindrücke.
So war sie von allen Gassenkindern die geschickteste im Kreiselschlagen, und ihr Kreisel, mit gelben und roten Blumen bemalt, war der schönste von allen. Wie stolz war er gewesen, wenn sie ihm als Einzigem diesen Kreisel überließ. Als er dann neun oder zehn Jahre alt gewesen war, hatten sie sich von den andern Kindern oft abgesondert und in den Gärten hinterm Haus gespielt. Dort erfanden sie sich Landschaften und fremde Länder, in denen sie mit ihren Tierfiguren furchterregende Abenteuer erlebten. Zu dieser Zeit ging Esther bei ihnen ein und aus, sie war ja noch ein kleines Mädchen mit fast schwarzen, glänzenden Zöpfen. Auch ihn selbst hieß man bei den Grünbaums jederzeit willkommen. Er kostete ihre koscheren Speisen, die nach unbekannten Gewürzen dufteten, ihre
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