Der Pestengel von Freiburg
dünnen, ungesäuerten Brotfladen zur Pessachwoche, lernte ihre oft wundersamen Riten und Zeremonien kennen, ihre fröhlichen Lieder und ausgelassenen Tänze.
In jenen Tagen sahen die Erwachsenen noch keine Gefahr darin, wenn Esther und er zum Spiel zusammenfanden, hatten nichts dagegen einzuwenden, dass der Sohn des christlichen Wundarztes mit der zwei Jahre jüngeren Tochter des jüdischen Pfandleihers und Geldwechslers ein Herz und eine Seele war. Die Alten ahnten nicht, dass sie, die Kinder, längst heimliche Berührungen und kleine Zärtlichkeiten austauschten, die sich beim Fangen und Versteckspiel ergaben. Im Stillen nannte Benedikt jeden Tag, an dem sie nicht beieinander waren, einen verlorenen Tag.
Einmal – und bei dieser Erinnerung musste Benedikt solaut auflachen, dass Daniel ihn erschreckt ansah – hatte er vom Sohn des Karrenbecks erfahren, wie man Liebeszauber ausübte: einen Zauber, mit dem man die Angebetete auf immer an sich binden könne. Man müsse auf eine Haselnussrute nur die magischen Worte «pax + pix + abyra + synth + samasic» ritzen, dreimal der Begehrten damit auf den Kopf hauen, um sie in glühender Liebe entbrennen zu lassen! Schreiben hatte Benedikt damals längst gelernt, die Schwierigkeit lag eher darin, dass ein schlanker Haselstecken kaum Raum für so viele Buchstaben bot. So hatte er sich unten am Dreisamufer ein besonders kräftiges Exemplar gesucht, hatte stundenlang geritzt und geschnitten, bis er die Gelegenheit gekommen sah. Seine Mutter hatte ihn und Esther zum Eiersammeln in den Hühnerstall geschickt. Das Zauberwerkzeug hatte er neben dem Stall im Schuppen versteckt, und so bat er Esther, einen Augenblick zu warten, er habe eine Überraschung vorbereitet. Als er zurückkehrte und sie ihn erwartungsvoll anblickte, hatte er den Stecken hinter dem Rücken hervorgeholt und ihr damit drei Hiebe über den Kopf gezogen. Den entsetzten Blick aus ihren Augen würde er nie vergessen. Und auch nicht ihre klatschende Maulschelle, die ihm die Wange tiefrot anlaufen ließ. Danach hatte Esther wochenlang nicht mehr mit ihm gesprochen, und er war zu feige gewesen, ihr den Grund für seine Tat zu gestehen. Damals hatte er geglaubt, der Zauber sei nur deshalb missglückt, weil für die letzten drei Buchstaben kein Platz mehr gewesen war.
Ein andermal hatte er Esther überredet, nach einem heftigen Wolkenbruch mit ihm auf den Friedhof der Pfarrkirche zu gehen. Aus irgendeinem Grund hatte Benedikt ihren Mut auf die Probe stellen wollen, denn es dämmerte bereits an diesem kühlen Herbstabend, und mit der Nacht fanden sich Dämonenund Gespenster dort ein. Tagsüber war der Kirchacker durchaus ein Ort der Lebenden. Den Kindern war erlaubt, dort zu spielen, Handwerksgesellen trafen sich zu Versammlungen, Grempler boten ihren Kram an, Ziegen weideten zwischen den Grabstätten, und zu Festtagen wurden hier religiöse Schauspiele aufgeführt und hernach getanzt. Der ältere Teil des Friedhofs diente obendrein als Baustelle und Lagerstätte für den Kirchenneubau.
Das einzig Unheimliche zur hellen Stunde war der bucklige Totengräber, der auf dem Kirchhof seinen Verschlag hatte und der im Ruf stand, mit Geisterwesen umzugehen. Und dann war da noch das Beinhaus im Gewölbe der Andreaskapelle. Durch ein schmales Loch nahe am Boden konnte man die blanken Knochen und Schädel aus den alten Grablegen erkennen, allesamt sorgfältig aufeinandergeschichtet.
Zum Schutz gegen streunende Tiere war der neuere Teil des Friedhofs von einer mannshohen Bruchsteinmauer umgeben. Nächtliche Besucher indessen schien die Mauer nicht abhalten zu können. Jeder wusste, dass sich nach Einbruch der Dunkelheit zwielichtige Gestalten zu ebenso zwielichtigen Geschäften auf dem Friedhof trafen, Obdachlose ihr Lager aufschlugen, Dienstmägde zum heimlichen Stelldichein erschienen, Verschwörer und Verbrecher ihre finsteren Pläne schmiedeten. Und dazu kamen eben noch die Gespenster und Dämonen.
Auch Esther wusste von alledem, und ebenso wusste sie, dass Hebräer auf dem christlichen Gottesacker höchst ungern gesehen wurden.
«Hast du Angst?», hatte Benedikt sie gefragt, nachdem sie gezögert hatte.
«Nein.»
Das Tor war noch nicht verschlossen, als sie den Friedhoferreichten, und der volle Mond, der sich durch die Wolkenfetzen schob, tauchte die Gedenksteine in silbrigen Schein. Sie schlichen an der Kapelle vorbei zur Friedhofslinde, deren Zweige noch vom Regenguss glänzten, und lauschten auf verdächtige
Weitere Kostenlose Bücher