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Der Pestengel von Freiburg

Der Pestengel von Freiburg

Titel: Der Pestengel von Freiburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Geräusche. Benedikt spürte Esthers Schulter an seiner.
    «Was ist das?», flüsterte sie. Jetzt hörte Benedikt es auch. Rundum schmatzte und seufzte es leise, es klang wie das unterdrückte Schluchzen eines Kindes. Plötzlich bekam er es selbst mit der Angst zu tun. Erst als er die Tropfen spürte, die aus dem nassen Geäst auf sie herabfielen, begriff er. «Das ist nur der Regen, den das Erdreich aufsaugt.»
    Sein Blick schweifte über die Gräberfelder, und hie und da glaubte er etwas Weißliches schimmern zu sehen. Mit Schaudern erinnerte er sich daran, was sein Vater ihm einmal erklärt hatte. Da ein eigenes Grab nur den Vornehmen und Geistlichen zustehe, lege man in den Gruben Leichnam über Leichnam. Die Erdschicht darüber sei so dünn, dass hier und da eine Hand oder ein Fuß herausragen könnte. Nach heftigen Regenfällen würden dann die Schädel und Leichenteile schon einmal an die Oberfläche gespült.
    «Lass uns wieder gehen», murmelte er. Plötzlich ertönte hinter ihrem Baum ein leises Knurren. Er fuhr herum. Keine zehn Schritte entfernt stand ein zotteliger Köter. Sein Blick funkelte, und zwischen seinen Lefzen hielt er – einen Totenschädel!
    Esther unterdrückte einen Schrei. Im selben Moment ließ der Hund den Schädel fallen, senkte den Kopf und fuhr fort zu graben. Kleine und große Knochenstücke schleuderte er aus dem Erdreich unter sich, auch ein Kinderschädel war dabei, gerade so groß wie eine Faust.
    Esther packte Benedikts Hand und zog ihn eilig in RichtungTor. Doch das war nun mit einer Kette versperrt. Wehrhaft ragten seine Eisenspitzen in den nächtlichen Himmel.
    «Wir müssen über die Mauer.» Benedikt faltete die Hände zu einer Räuberleiter. Er spürte ihren nackten, schmalen Fuß auf seinen Handflächen, roch für einen kurzen Moment ihren Duft nach frischer Milch und irgendwie auch nach Zimt, während sie sich dicht vor ihm auf die Mauerkrone schwang. Dann reichte sie ihm die Hand, und er zog sich hinauf.
    «He! Lumpengesindel! Stehen geblieben!» Neben dem Ewigen Licht am Eingang zur Kapelle erschien der Bucklige.
    Voller Schrecken klammerte sich Esther an Benedikt fest. Ihre Hand, die er immer noch in der seinen hielt, war eiskalt.
    «Warte», flüsterte er. «Ich spring zuerst und fang dich dann auf.»
    Geschickt ließ er sich auf der anderen Mauerseite zu Boden gleiten, rappelte sich auf und streckte ihr die Arme hin. Da fiel sie ihm auch schon entgegen, und beide stürzten unsanft auf die Erde.
    Er half ihr wieder auf die Beine. «Hast du dir wehgetan?»
    Sie schüttelte den Kopf. Dabei zeichnete sich auf ihrer Stirn eine blutige Schramme ab. Ihr Gesicht war so dicht vor seinem, dass er ihren Atem spürte. Ohne nachzudenken, küsste er sie auf den Mund, spürte für eine kleine Ewigkeit ihre weichen, warmen Lippen. Sie ließ es geschehen, und sein Herz pochte so heftig, dass sie es ganz gewiss hörte. Da begann das Friedhofstor in seinen Angeln zu quietschen. Sie ließen einander los und rannten auf dem kürzesten Weg nach Hause.
    Dreizehn Jahre alt war er damals gewesen und hatte bald darauf seine Lehre begonnen. Damit und mit der ersten Beichte und Erstkommunion war seine Kindheit endgültig vorüber gewesen, jene unbeschwerte Zeit, wo sie sich zum Spielen undSchwatzen trafen. Über den Kuss hatten sie nie wieder gesprochen, und Benedikt ahnte, dass sich dieses süße Glück nicht wiederholen würde. All das war für immer vorbei.
    Jetzt ließ er Eisen und Klöpfel sinken und starrte vor sich hin. Eigentlich gab es seitdem nur noch verlorene Tage für ihn. Einzig der Schabbat war ihm geblieben. Wenn Esther zu Mittag von der Synagoge kam, wo die Frauen die sogenannte Weiberschul besuchten und über Gucklöcher den Gottesdienst der Männer verfolgten, trachtete er danach, ihren Weg zu kreuzen. Oder er versuchte sein Glück am Nachmittag im Stadtgraben, wo die Bürger, Christen wie Juden, bei schönem Wetter durch das Grün der trockengelegten Gräben spazierten. Das Höchste war, mit ihr ein paar Worte zu wechseln, sofern sie allein ging. War sie in der Obhut ihrer Familie, musste er sich mit einem Blickwechsel, einem Lächeln begnügen.
    Ihn durchfuhr ein wehmütiger Schmerz. All diese Erlebnisse aus Kindertagen gehörten endgültig der Vergangenheit an. An ihre Stelle war etwas Neues getreten, an dem er nicht mehr teilhaben durfte: Esther war eine junge Frau geworden. Plötzlich wusste er, dass er sie noch inniger liebte denn je.

Kapitel 3
    C lara kehrte vom

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