Der Pestengel von Freiburg
Bußsakraments mitnichten berechtigt sei. Um das Volk von diesen Leuten fernzuhalten, hielten er und die Kapläne tägliche Bittmessen ab. Auch sie mahnten zur Umkehr, flehten die Heiligen Sebastian und Rochus um Beistand vor der drohenden Seuche an, auch den heiligen Georg als Schutzpatron der Stadt. Indessen nur mit mäßigem Erfolg, denn die Menschen strömten lieber zu den blutigen Schauspielen als in die Gottesdienste ihrer Pfarrer. Unter den wenigen, die sich vor den Altären sammelten, war Clara. Nicht nur um Verschonung vor dem Großen Sterben betete sie, sondern auch um das Seelenheil ihrer jüdischen Nachbarn und um Versöhnung mit ihrem Sohn Benedikt.
In jener Woche drohte der Alltag in der Stadt erneut aus den Fugen zu geraten. Die Handwerker hatten ihre Werkstätten,die Händler ihre Läden geschlossen. Die Gassen waren mancherorts wie ausgestorben, dafür drängten sich die Massen dort, wo die Bußleute sich aufhielten. Immer hitziger wurde die Stimmung, immer unverblümter stachelte der Meister gegen die Freiburger Pfarrer auf: Die Priester würden ihr Amt nur um des üppigen Essens und Saufens willen ausüben und Gottes Wort gar nicht predigen. Gegen das Böse würden sie gar nicht ankämpfen wollen. Dabei dränge die Zeit bis zur Ankunft des Antichristen! Verflucht sei also, wer sich den Bußleuten entgegenstelle.
Als am Ende der Haufe immer größer wurde und Bauern und allerlei Gesindel aus dem ganzen Umland anzog, darunter Straßenräuber, Totschläger und liederliche Weiber; als die anfängliche Bescheidenheit der Bußleute in offene Bettelei, dreisten Diebstahl und wollüstige Ausschreitungen umschlug; als ihr Meister schließlich auf offener Straße Teufelsaustreibungen vornahm und ihre blutgetränkten Lumpen als Wunderheilmittel verscherbelte, da endlich handelten die Ratsherren. Die Geißler wurden aus der Stadt gejagt, die Tore waren ihnen auf immer verschlossen.
Benedikt hatte sich bald von alledem ferngehalten, besuchte weder die Bittgottesdienste, wo er seiner Mutter begegnen würde, noch die Prozessionen der Geißler, die er verabscheute. Er wusste: Gäbe es noch Juden in der Stadt – spätestens jetzt würden diese Unsinnigen den Mob gegen sie aufhetzen.
So klopfte er seine Steine auf dem halbverlassenen Werkplatz, ohne Rast und Pause, bis der Feierabend eingeläutet wurde. Danach pflegte er die Pfarrkirche aufzusuchen, die ihm zu dieser Tageszeit fast allein gehörte, und kniete vor dem Kreuzaltar nieder, um zu trauern und zu beten. In jenen Tagen geschah esauch, dass ihm beim Gebet zum ersten Mal Esther erschienen war. Sie war um ihn, war anwesend, ohne dass er ihre Gestalt irgendwo im Kirchenschiff hätte ausmachen können. Doch er konnte ihren Duft riechen, ihre Stimme hören, wenngleich er ihre Worte nicht verstand. Vor Dankbarkeit hatte er zu weinen begonnen.
Kapitel 18
W art auf mich, Heinrich.» Clara schlüpfte in ihre alten Holzschuhe, da ein Sturzregen die Gassen in kotigen Morast verwandelt hatte. «Ich begleite dich zum Bärenwirt. Ich hab die Biengerin schon lange nicht mehr gesehen und würd ihr gerne …»
«Bleib lieber hier. Das Unwetter könnte erneut losgehen. Außerdem will Hanmann Bienger, dass Behaimer bei der Untersuchung seiner Frau mit dabei ist. Es geht ihr wohl wirklich übel.»
Clara zog erstaunt die Brauen hoch. «Du ziehst doch nicht etwa den Schwanz ein?»
Einige Tage zuvor nämlich war Heinrich vor die Zunft geladen worden, wo man ihn in strengen Worten zurechtgewiesen hatte. Es ginge nicht an, dass seine Ehegenossin ohne jegliche Badergerechtigkeit die Bürger zur Ader lasse, wie es ihr grad beliebe. Zunächst hatten sie beide geglaubt, diese Rüge wäre auf Behaimers Mist gewachsen, und Heinrich hatte ihn umgehend zu Hause aufgesucht und zur Rede gestellt. Doch der Medicus hatte nur mit den Schultern gezuckt. «Ich hab damit nichts zu schaffen», waren seine Worte gewesen. «Auch wenn ich der Ansicht bin, dass das Reich des Weibes die Haushaltung ist, mit Kirchgang, Backhaus und ein bisschen Tratsch am Brunnen. Aber bestell deiner Frau doch recht schöne Grüße von mir.»
«Wir haben uns doch nie ins Bockshorn jagen lassen, warum jetzt?», fuhr Clara fort. «Außerdem hast du nichts anderes gelobenmüssen, als dass ich nicht mehr allein in die Häuser gehe. Wohin und weshalb ich dich begleite, braucht niemanden zu kümmern.»
«Ich geh allein, hab ich gesagt.» Sein Tonfall wurde streng. «Eli hat trockenen Husten, da solltest du
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